Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Verriegelte Türen und Fenster konnten sie nicht aufhalten, denn Zitto hatte sie aus Worten erschaffen und solche pflegen – gedämpft zwar, aber unbeschadet – sogar dicke Mauern zu durchdringen; daher öffnete sich den Wortklaubern jedes Schloss. Nun jedoch verschwanden die schwirrenden Scheusale nach und nach aus den Häusern. Bald würde auch der letzte unten im Burghof Zeter und Mordio schreien.
Während Pala so, halb berückt, halb angewidert, der Jagd des Wortklaubervolkes in Silencias schimmernden Hauslaternen zusah, hörte sie von der Tür her unvermittelt ein lautes Rumpeln und fuhr erschrocken herum. Auf der Treppe draußen wurde sprachgewaltig geflucht. Nein, diese Stimme gehörte keinem der als Wachtposten zurückgelassenen Jamben, sondern Zitto, der weitschweifig über die Schatten auf den ausgetretenen Stufen schimpfte. Wenig später drang durch die Decke das Knarren und Knarzen seiner Schritte herab. Er rumorte eine Weile in seinem Arbeitszimmer. Dann wurde es still.
Was er wohl jetzt noch da oben zu tun hatte, wenn doch angeblich die Worte der Macht zum Rückruf des Meister-Sonetts längst gesprochen waren?
Das Gedicht vom Fuße des Turms kam Pala wieder in den Sinn. Es endete mit denselben Worten, die den Auftakt zu ihrem eigenen Geburtsgedicht bildeten – der Kreis hatte sich geschlossen. Ja, dachte sie, das Turmsonett konnte nur das vierzehnte sein, das letzte, jenes, das den Kranz vollendete. Der Sonettenkranz bestand ebenfalls aus vierzehn Gedichten und einem. Nur ein Zufall? Wie nur konnte das Meister-Sonett in den Besitz der Menschen gelangen, wenn ihnen doch – wie Zitto mehrmals betont hatte – nur die vierzehn Klinggedichte ausgehändigt worden waren? An dieser Frage, daran hegte Pala keinen Zweifel, hing Zittos Sieg oder Niederlage. Und an ihr, seiner Nachfahrin in fünfzehnter Generation, die nun die Bürde des Meister-Sonetts trug. Mit den Versen, die zu Hause in ihrem Zimmer hingen, war sie der einzige Mensch, der den ganzen Reigen kannte. Dieses Wissen hatte Zitto gefürchtet. Doch warum? Wie um alles in der Welt lauteten die Worte des geheimnisvollen Meister-Sonetts? Und auf welche Weise konnten diese Zittos Bann brechen…?
Ein heller Glockenschlag ließ Pala zusammenfahren. Erschrocken blickte sie zum Uhrenturm hinab. Wie nah alles mit einem Mal war! Sie konnte sogar das angestrahlte Ziffernblatt lesen. »Zehn Uhr!«, flüsterte sie und war keineswegs erleichtert über dieses Wissen. Merkwürdig langsam schleppte sich das Geläut dahin: drei weiteren hohen Schlägen folgten zehn tiefe.
»Nur noch zwei Stunden«, murmelte Pala verzweifelt, was ihre innere Stimme zu einigen Rechenkunststücken anregte. Das sind immerhin vier halbe und sogar acht Viertelstunden – genug Zeit, um Zittos Pläne zu durchkreuzen.
»Ich gebe mir ja alle Mühe«, jammerte Pala leise. Es war nicht so leicht, sich in Zittos labyrinthische Gedankengänge zu versetzen. Er schien nichts ohne heimtückische Absicht zu tun und dabei mehr als alles sonst die eigene Vorrangstellung als oberster Dichterfürst zu verteidigen. Ob nun in dem Zweikampf mit Worten, in einer beiläufigen Bemerkung zur »Übermacht der Gliederfüßer« oder in seinem rücksichtslosen Streben Die Macht der Worte für sich einzusetzen (»Romeo war der rechtmäßige König der Dichter«) – niemand durfte Zittos Überlegenheit anfechten. Nichts fürchtete er mehr als den »Abgrund der Belanglosigkeit«, in den sein Schüler ihn angeblich hatte stoßen wollen. Zittos Beweggründe glaubte Pala also zu kennen – nur wie konnte ihr dieses Wissen bei der Durchkreuzung seiner Pläne helfen? Die Mosaiksteinchen sind alle da, sagte der »Untermieter« in ihrem Schädel, aber du bekommst sie nicht zu einem ordentlichen Bild zusammengesetzt. Streng dich gefälligst an! Während ihr Blick auf den Lichtern der Stadt ruhte, rief sie sich noch einmal jenen kurzen Moment in den Sinn, als sie in Zittos Arbeitszimmer das Meister-Sonett gesehen hatte. Die erste Zeile… Sie war…
Urplötzlich blickte sie durch das Fenster eine schreckliche Fratze an.
Pala schrie, hielt sich aber gleich wieder die Hand vor den Mund, denn so fürchterlich war die Grimasse nun auch wieder nicht. Ihr Erscheinen, auf dem Kopf stehend und sich unvermittelt von oben in den Fensterausschnitt schiebend, hatte sie nur überrascht. Ansonsten sah Tozzo wie immer aus.
»Tozzo! Wo kommst du denn her?«, raunte sie, um nicht von den Wachen vor der Tür gehört zu
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