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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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hatte Tozzo es doch geschafft!
    Der Geschichtenerzähler stand hoch oben auf dem Uhrenturm und seine Stimme trug wundersam weit über die Grenzen Silencias hinaus. Es war ja ein besonderes Gedicht, dem er da gemessenen Tons, im Takt des Geläuts, Gehör verschaffte, eine Zeile für jeden Glockenschlag. Als würde mitten in der Nacht die Sonne aufgehen, entfaltete sich machtvoll die Kraft des Meister-Sonetts. Allein sein Anblick hatte Gaspares gebundene Worte befreit, nun durchdrang es die Herzen aller anderen Menschen der Stadt.
    Als Romeos Nachfahre gehörte auch Gaspare zu den rechtmäßigen Eigentümern des Sonettenkranzes. Bei ihrem ersten Überfall hatten die Klauber seine Wortgewalt nicht gänzlich brechen, ihm die Sehnsucht nach den »vollkommenen Worten« nicht restlos nehmen können – die Fähigkeit zur Verkündung des Meister-Sonetts besaß er also noch – und deshalb waren Zittos geflügelte Schergen in der Villa des Schweigens ein zweites Mal über ihn hergefallen. Erst die Entdeckung durch ein zorniges Mädchen hatte ihrem heimlichen Treiben ein Ende gesetzt. Deshalb, so hatte Pala gehofft, würde das fünfzehnte Gedicht Nonno Gaspare die Sprache zurückgeben können. Voller Befriedigung lauschte sie nun dem Gleichklang von Glocken und Worten.
     
    »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer,
    allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern.
    Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern,
    die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.
     
    Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer,
    sogar von Gift lässt sich der Tor erheitern.
    Ein Wort im Zorn reißt Wunden, die schlimm eitern.
    Den Tod erfreut’s, der still liegt auf der Lauer.
     
    Die Offenheit lässt den Verschwörer weichen.
    Das Netz von Ichsucht, Stolz und Neid zu kappen,
    gelingt nur den an Wahrheitsworten Reichen.
     
    Der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen.
    Die Klugen selbst in Not seh’n Hoffnungszeichen,
    besiegen mutig feige Jammerlappen.«
     
    »Danke, Tozzo«, flüsterte Pala leise und sank erschöpft im Käfig zusammen.
    Hierauf schien die Zeit stillzustehen. Pala blickte zu dem alten Dichter hinab und der sah zu ihr herauf. Anstelle von Hass fand sie in seinem Gesicht Traurigkeit, Bitternis, ja Unsicherheit, fast so als wäre er aus einem schlimmen Traum erwacht, in dem er ein anderer gewesen war, jemand, für den er jetzt nur Abscheu empfand. Mit einem Mal begann Romeo zu sprechen, sanft und würdevoll; auf seinem Gesicht lag ein überraschend friedlicher Ausdruck.
    »Pala, mein kleines Mädchen, nun gehört das Sonett dir. Du bist die Meisterin der Worte. Ich bin stolz auf dich.«
    Sodann begann er zu schrumpfen.
    Pala erschrak. Sie blickte entsetzt zu dem flackernden Fenster hin, dann wieder zu dem welkenden Alten. »Nein«, widersprach sie und schüttelte den Kopf, ihre Worte überschlugen sich fast. »Nein, vor mir erben Gaspare und Giuseppe. Außerdem bist du der Meister des Gedichts. Und jetzt wird man dir endlich die Ehre erweisen, die dir zusteht. – Was ist nur mit dir, Urgroßvater Romeo?«
    Der Dichterfürst verzwergte zunehmend schneller. Mit sonderbar hoher Stimme, doch gleichwohl feierlich, antwortete er: »Als dein Vorfahre, lass mich meinen Namen dem deinen hinzufügen: Romeo Oratore – die Anfangsbuchstaben R und O umschließe, damit du nicht mehr länger Pala, sondern Pa-ro-la heißest. Parola Oratore, wird man dich nennen, weil durch dich viele neue Worte geredet werden sollen.«
    »Nur nützt mir das wenig, wenn ich nicht schleunigst hier herauskomme«, jammerte Pala. »Lass mich bitte frei, Urgroßvater, damit du den Menschen nicht als Mordbrenner in Erinnerung bleibst.«
    Der winzige Romeo schüttelte bedauernd den Kopf und piepste: »Dazu ist es zu spät, kleines Mädchen. Ich bin zu klein und muss nun gehen. Leb wohl. Als beste Rätsellöserin, die ich kenne, wirst du schon einen Weg heraus finden.«
    Romeo seufzte ein letztes Mal und schrumpelte bis zur Unsichtbarkeit zusammen.
    Vom Wind getragen, drang an Palas Ohr ein letzter voller Glockenschlag. Warum der Kampanile damit so lange gezögert hatte, war ihr ebenso unerklärlich wie des Alten Abschiedsworte. Es musste etwas mit jener merkwürdigen Äußerung beim Abendessen zu tun haben. Sie sei ihrem Lebensrätsel nur »ganz nah« gekommen, hatte Zitto gesagt. Was in aller Welt konnte er damit gemeint haben?
    Ein lautes Klirren ließ Pala zusammenfahren. Mehrere Fensterscheiben waren zersprungen. Feuerrote Flammen schlugen in

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