Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
den Saal. »Wie lautet das letzte Rätsel?«, murmelte sie. »Komm schon! Was nützt dir dieses Zuhause hier, wenn du mit ihm verbrennst? Du…« Wieder platzte eine Scheibe in den heraufzüngelnden Flammen. »Nun komm endlich, Pala! Mutters Große ist ein kluges Köpfchen, ihr…« Plötzlich hielt sie inne.
Es war, als hätte jemand einen Vorhang zur Seite gerissen und damit den Blick auf die Wirklichkeit ihrer Gefühle freigegeben. »Das achte Rätsel lautet: Wo ist dein richtiges Zuhause?«, flüsterte Pala und erinnerte sich so manchen Wortes, das sie zuletzt über ihre Familie geäußert hatte. Nein, so sprach niemand, der hasste und verbittert war, sondern nur einer, den Sehnsucht erfüllte, ein tiefes Verlangen nach jenen Menschen, die er wirklich liebte. Pala füllte ihre Lungen mit der rußgeschwängerten Luft und sagte: »Jemandes Zuhause ist da, wo er geliebt wird. Und meines ist in der Alexandrinergasse, bei Mama, Papa und Nina…«
Sie stockte, weil ein heftiges Schwanken sie schwindeln machte. Erschrocken kniff sie die Augen zu. Zwei, drei holprige Herzschläge lang glaubte sie, der Käfig müsse von der Decke fallen, aber dann merkte sie, wie dumm diese Befürchtung war: Ihr Hungerpferch schaukelte nicht einmal. Langsam hob sie die Lider und wunderte sich, weil sie auf dem Boden von Zittos Arbeitszimmer im Turm kauerte.
»Ich muss nach Hause!«, stieß sie hervor, sprang auf die Beine und wollte zum Fenster laufen. Dabei streifte ihr Blick den Folianten auf dem Schreibtisch. Es war Zittos Zauberbuch, Die Macht der Worte. Schnell riss sie sich wieder von dem Wälzer los und eilte zum Fenster. Unten tobte ein Flammenmeer, es war unmöglich, die Festung auf diesem Weg zu verlassen, ja, die ganze Bücherburg brannte lichterloh. Jetzt stecken wir in der Klemme, nörgelte der »Untermieter« in ihrem Kopf.
In diesem Moment flog hinter Pala die Tür auf. Die Jamben!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wirbelte herum und riss vor Verwunderung die Augen auf.
»Giuseppe!«, kreischte sie.
Der junge Erzähler stolperte keuchend in das Turmgemach, sein Gesicht war schweißüberströmt und schmutzig wie bei einem Grubenarbeiter, aber er grinste. »Jetzt weiß ich endlich, was ich meinen Märchenhelden für Schwerstarbeit zugemutet habe. Ich werde wohl einige Geschichten umbauen müssen.«
Pala lief um den Arbeitstisch herum und fiel ihrem Retter in die Arme. »Unten steht alles in Flammen. Wie hast du mich gefunden?«
»Ich hatte schon fast jede Hoffnung aufgegeben. Nur der alte Steinturm hält den Flammen noch stand. Also bin ich durch einen Geheimgang hereingeschlüpft, um hier nach dir zu suchen – mit Erfolg, wie man sieht.«
»Einen Geheimgang? Wie hast du den so schnell ausfindig machen können?«
»Ich hab ihm ‘n bisschen geholf’n«, sagte unversehens eine fipsige Stimme, deren Besitzer gerade Giuseppes Schulter erklomm.
Pala löste sich aus der Umarmung ihres Freundes, um herauszufinden, wer da auf der anderen Seite seines Kopfes gesprochen hatte. Als sie das Flauschknäuel erkannte, machte ihr Herz einen Sprung.
»Nuschel! Du?«
»Ich konnt-dich ja nich’ allein lass’n.«
»Aber warum hast du mir denn nichts von dem Geheimgang erzählt?«
Der Kleine zuckte mit den Schultern. »Du hast mich nich’ danach gefragt.«
Pala klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wie hatte ich das vergessen können!«
»Wir müssen schnell hier raus«, mahnte Giuseppe und reichte ihr die Hand. »Am Fuße des Turmes habe ich eine Tür gesehen, die den Flammen nicht mehr lange standhalten wird.«
Pala nickte und wollte schon mit ihm gehen, als sie noch einmal innehielt. »Warte!«
»Was denn jetzt noch?«
Pala lief zum Schreibtisch und schnappte sich Die Macht der Worte. »Du hast mir doch die Sage vom Unaussprechlichen erzählt. Sein Geheimwissen steht in diesem Buch. Ihm verdankte Zitto seine Macht. Doch nun ist Schluss damit.«
Im Sprechen war sie wieder zum Fenster gegangen. Jetzt hob sie das Zauberbuch über den Kopf, beugte sich so weit wie möglich heraus und schleuderte Die Macht der Worte in den Feuersee. Als das Buch in die Flammen tauchte, schoss ein gleißender Blitz empor, ließ den Nachthimmel über Silencia für die Dauer eines Herzschlags taghell erstrahlen und fiel dann lautlos in sich zusammen. Mit einem grimmigen Lächeln auf dem Gesicht wandte sich Pala wieder zu Giuseppe und Nuschel um. »Was verloren geht, bleibt verloren.«
Der Erzähler nickte beifällig. »Du
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