Palast der Schatten - historischer Kriminalroman
stieg über den Unrat und sprang, immer eine Stufe auslassend, die ausgetretene Treppe hinauf.
Die Eltern saÃen in der Wohnküche und tranken Bier. Er nahm seine Schiebermütze ab, stürzte ihnen entgegen und verkündete, mit dem Wanderkino zu ziehen.
»Du willst mit den Lebenden reisen?«, schrie der Vater. »Willst du zum Verbrecher werden? Du wirst wieder zur Fabrik gehen, haste verstanden?«
Er versuchte, sich am Vater vorbeizudrängen, um seine Sachen aus dem Schlafzimmer zu holen. Der Vater zog einen Knüppel hinter dem Ofen hervor und drosch auf ihn ein. Einmal, zweimal, dreimal schoss der Prügel auf ihn nieder wie ein Knethaken. Aus Theo blutete Demütigung. Sein Blut verwandelte sich in glutrote Wut. Die Wut schlug den Vater zu Boden. Die Mutter heulte auf. Theo rannte aus der Wohnung.
»Verbrecher!«, schrie der Vater ihm nach. »Lass dich hier nie wieder blicken!«
Theo kotzte braunen Keksteig in den Hof, bis sein Magen ganz leer war. Nun war er ein Verbrecher, aber kein Teig-Theo mehr.
Er zog mit Simon von Stadt zu Stadt, von Kirmes zu Kirmes.
»Immer herein, meine Damen und Herren!«, rief Theo durch das Sprachrohr. »Hier sehen Sie das Wunder der lebenden Schatten. Hier sehen Sie Bilder zum Totlachen, zum Weinen und zum Träumen. Treten Sie ein in den âºPalast der Schattenâ¹. Kommen Sie in die dunkelste Kinobude der Stadt mit den brillantesten lebenden Bildern! Eintritt nur 40 Pfennige, nur 40 Pfennige.«
Man konnte jederzeit in die Vorstellung gehen. Die Eintrittskarten waren mit Nummern bedruckt. Wurde eine Nummer aufgerufen, musste der Zuschauer das Kino verlassen oder nachzahlen. Doch wenn das Kino nicht gut besucht war, durften die Leute bleiben, so lang sie wollten.
»Einige riskieren eher eine Ohnmacht, als vor Kinoschluss nach Hause zu gehen«, sagte Simon. »Und weiÃt du, warum? Sie halten die Armut ihres Lebens nicht aus und haben Angst, dorthin zurückzukehren.«
Morgens streunte Theo mit dem Filmkasten durch die Stadt, um Aufnahmen zu machen. Er stellte sich vor die Ausgänge von Kirchen, Museen oder Bahnhöfen, um möglichst viele Menschen einzufangen, damit sie sich in der Vorstellung auf der Leinwand wiedererkannten und vor freudiger Ãberraschung aufschrien.
Simon hatte ihn alles gelehrt. Theo filmte, kurbelte und erzählte. Er suchte Stimmen für die Gestalten, erfand Dialoge und machte passende Geräusche zu den Bildern. Er traute sich immer mehr zu. Am Harmonium spielte Fritz, ein hagerer, hohlwangiger Mann mit Hakennase und gekrümmtem Pianistenrücken. Er war sicherlich ebenso alt wie Simon. Er verfügte nur über ein sehr kleines Repertoire. Ständig wiederholten sich die Stücke. Doch immer, wenn Theo sprach, nahm er sein Spiel rücksichtsvoll zurück.
Sie verdienten gut und konnten sich bald eine gröÃere Bude und eine dampfbetriebene Lokomobile kaufen. Die Lokomobile zog die Wagen zum Bahnhof und vom Bahnhof zum Festplatz und erzeugte den Strom, den sie brauchten.
Theo kümmerte sich um das Aufâ und Abbauen der Bude. Mithilfe einiger Jungen aus dem Ort lieÃen sich die Wände schnell zusammenlegen und wieder errichten. Die neue, prachtvolle Fassade war mit Lämpchen und bunt bemalten Holzschnitzereien verziert. Die Kassenbox befand sich in der Mitte des Eingangs. Rechts davon dampfte die Lokomobile. Auf der linken Seite klimperte die Orgel mit den kleinen, sich zur Musik bewegenden Figuren.
Simons Husten verstärkte sich zusehends. Seine Lungen pfiffen bei jedem Atemzug und sein Gesicht war von fahler Blässe gezeichnet. Nach und nach übergab Simon ihm fast alle Arbeiten. SchlieÃlich verkaufte der alte Mann nur noch die Eintrittskarten. Eines Abends, sie aÃen Bratkartoffeln und tranken Bier, ergriff Simon seine Hand und streichelte sie.
»Theo«, sagte er, »ich habe nicht mehr lang zu leben. Ich habe niemanden als dich. Fritz kann die Bude nicht führen. Er hat nicht das Zeug dazu. Und er ist zu alt. Du wirst den Kinematographen und mein Erspartes erben, Junge. Mach dein Glück, versprich es mir. Und versprich mir, Fritz zu behalten.«
Theos Herz stand still. Er starrte Simon mit ungläubigen, tränenfeuchten Augen an.
»Aber du kannst ins Krankenhaus gehen. Ich bringe dich hin, gleich morgen.«
»Theo, ich werde sterben.«
Theo brachte ihn ins Spital. Simons Gesicht und Lippen glichen dem weiÃen
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