Palast der Stürme
Schulterblättern lockerte, um eine Verspannung zu lösen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch das schwarze Haar und ließ zu, dass ihm der Wind die Stirn trocknete.
»So ist es schon besser«, murmelte er und verstummte dann. Er konzentrierte sich eine Weile auf die Zügel in seinen Händen, die ebene, gerade Straße vor sich und seine geheimen Gedanken.
Unvermutet deutete er mit einer Bewegung seines Kinns auf ein großes Gebäude zu ihrer Rechten.
»Schauen Sie, Miss Sheffield, das ist das Regierungsgebäude – Lord Cannings Residenz. Von außen sieht es sehr hübsch aus, nicht wahr?«
Roxane wandte sich zur Seite und sah ein stattliches dreistöckiges erdfarbenes Gebäude mit einer säulenumgebenen Veranda. Um das Haus herum befand sich ein großer Garten; unter der Kolonnade schwirrten grüne Papageien durch die Luft. Das beeindruckende Gebäude im klassischen Stil der westlichen Kultur hob sich überraschend von all den anderen östlichen Bauten ab. Als sie diesen Gedanken laut aussprach, lächelte Collier.
»Das finde ich auch. Das Gebäude und der Garten wurden von einem Neffen von James Wyatt entworfen. Als Canning es übernahm, war es jedoch noch nicht komfortabel ausgestattet. Es gab keine einzige Toilette – oh, Verzeihung«, unterbrach er seinen Satz. »Das ist mir so herausgerutscht. Ich nehme an, dass eine junge Lady nicht daran interessiert ist, sich über Toiletten zu unterhalten.«
»Und warum nicht?«, entgegnete Roxane. »Würden Sie mich besser kennen, würden Sie wissen, dass ich nichts gegen Themen einzuwenden habe, die als unschicklich oder unpassend gelten. Wenn man etwas lernen möchte – und genau das habe ich mir vorgenommen –, dann darf man sich nicht von Konventionen abschrecken lassen, oder?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Colliers Gesicht, und seine Kinnmuskeln zuckten.
»Nein«, stimmte er ihr zu. »Das darf man wohl nicht.«
»Lesen Sie gern, Captain?«
»Nicht besonders.«
»Nein? Ich dachte … Ach, egal. Ich genieße diesen Zeitvertreib sehr – ich lese alles, was ich in die Finger bekomme. Bevor ich meine Reise angetreten habe, habe ich alles über Indien verschlungen. Dieses Land fasziniert mich«, erklärte sie. »Obwohl ich so naiv erscheine«, fügte sie dann mit einem Zwinkern hinzu.
Er erwiderte ihre humorvolle Bemerkung mit einem Lächeln.
»Dort drüben steht ein weiteres Gebäude, das Sie interessieren könnte.« Er deutete auf ein Haus, ohne die Hand von seinem Knie zu nehmen. »Es hat eine besonders aufregende Geschichte. Würden Sie sie gern hören?«
Roxane nickte, und die nächste halbe Stunde unterhielten sie sich angeregt. Hin und wieder blieben sie am Straßenrand stehen, lachten gemeinsam über etwas oder waren sich stillschweigend über die eine oder andere Kleinigkeit einig. Vorübergehend vergaß sie, dass er sie geküsst hatte und dass sein Kuss sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er unternahm keine weiteren Versuche, sie zu berühren, und kam ihr lediglich näher, wenn er sich vorbeugte, um sie auf eine Sehenswürdigkeit aufmerksam zu machen. Obwohl sein Verhalten vollkommen unschuldig erschien, war sie auf der Hut und beobachtete seine Miene mit gespannter Erwartung.
Captain Harrison beendete seine kurze Besichtigungsfahrt vor einem schmalen Weg, der zu einem kleinen weiß gekalkten Bungalow führte. Ein niedriger Lattenzaun – ein kleines Stück England, wie Roxane feststellte – säumte einen Garten voll von Oleander und Hibiskus, der offensichtlich sorgfältig von einem Einheimischen mit geschickten Händen gepflegt wurde. Hinter den Hecken und einer Reihe unbekannter Bäume stieg feuchte Luft auf, und Roxane entdeckte einen Wassereimer, mit dem anscheinend am frühen Morgen, als die Sonne noch tief gestanden hatte, die Blumen gegossen worden waren.
»Und was für ein Haus ist das?«, fragte sie, in der Hoffnung auf eine weitere anschauliche Geschichte.
»Das ist das Haus Ihrer Gastgeber«, antwortete er tonlos.
»Oh.«
Mit einem Mal war sie enttäuscht, wo sie sich doch noch vor Kurzem nichts sehnlicher gewünscht hatte, als so schnell wie möglich hier anzukommen. Sie wandte sich um und warf einen weiteren Blick auf die Auffahrt. Das Haus wirkte verschlafen und träge. Nur ein einheimischer Diener kniete neben den Oleanderbüschen. Neben dem Haus entdeckte sie die Ghari mit ihrem Gepäck. Der Kutscher schlief friedlich daneben im Schatten. Langsam drehte sie sich wieder um. Der Blick des Captains verriet
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