Palast der Stürme
Sie nicht die Prüde zu spielen. Ich erinnere mich noch daran, dass Sie sich über gewisse Konventionen ebenso hinweggesetzt haben, wie ich es nach Meinung meiner Mutter jetzt auch tue.«
»Tatsächlich?«, erwiderte Roxane trocken.
»Ja.«
»Das mag schon sein«, gestand Roxane ein. »Allerdings glaube ich nicht, dass ich jemals romantisch war, egal in welchem Alter.«
»Das liegt nur daran, dass Sie zu groß sind«, erwiderte Unity nüchtern.
»Wie bitte?«
»Haben Sie gewusst, dass die meisten indischen Frauen sehr klein sind, so wie ich? Mir gefällt das. Sie führen ein sehr romantisches Leben.« Sie neigte leicht ihren Kopf, hob ein mit Chintz bezogenes Kissen von einem Stuhl, schüttelte es auf und ließ es nachlässig wieder fallen.
Roxane runzelte die Stirn. »Inwiefern?«, fragte sie.
»Sie verbringen ihr Leben beschützt und behütet von den Männern, die sie lieben; sie tragen faszinierende Kleidungsstücke, verschleiern sich und zeigen sich nur ihren Ehemännern; und wenn diese dann sterben, sterben sie mit ihnen.« Unity dachte kurz nach. »Das ist wohl der am wenigsten romantische Teil daran. Ich halte es für gut, dass wir diesen Brauch nicht befürworten.«
»Du meinst die Witwenverbrennung?« Roxane klopfte mit ihrem Hut gegen ihren Rock. »Es ist nichts Romantisches daran, wenn eine Frau sich als Opfer auf dem Scheiterhaufen ihres verstorbenen Ehemannes anbietet. Miss Unity Stanton, ich muss mich über dich wundern! Gott sei Dank ist dieser schreckliche Brauch abgeschafft worden!«
Roxane schauderte und betrachtete mit gerunzelter Stirn das Mädchen, das sie kurz als Kleinkind kennengelernt hatte. Der Diener in der Ecke räusperte sich leise und machte sie damit auf seine Gegenwart aufmerksam. »Außerdem kann ich dir versichern, dass nicht alle Inderinnen verwöhnt werden und ein Leben in Luxus führen«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. »Wie in anderen Gesellschaften gibt es auch in dieser Sklavinnen. Und wie ich höre, werden manche Frauen hier von ihren Männern nicht besser behandelt als ein Hund.«
»Woher wissen Sie das, Miss Sheffield?«, fragte Unity mit einem Lächeln, bei dem sie ihre kleinen, perfekten Zähne entblößte.
»Ich lese viel«, antwortete Roxane.
»Da haben wir es!« Unity lachte laut. »Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen.«
Roxane ignorierte diese Bemerkung. »Und eure eigenen Diener? Sind darunter nicht auch Frauen? Hast du dich jemals gefragt, welches Leben sie außerhalb dieses Hauses führen?«
Der Gesichtsausdruck des rothaarigen Mädchens änderte sich unvermittelt. Sie wirkte plötzlich sehr enttäuscht.
»Sie sind eine sehr ernsthafte Frau, Miss Sheffield«, sagte sie leise.
»Ja«, stimmte Roxane ihr zu. »Das trifft oft zu.« Sie lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid. Wir hatten einen schlechten Start, nicht wahr? Ich wollte mich nicht mit dir streiten.«
Unity senkte den Kopf. »Machen Sie sich keine Sorgen – das bedeutet nur, dass es ganz so aussieht, als würden wir Freundinnen werden.«
»Wie kommst du darauf?«, wollte Roxane wissen.
»Wir haben uns nicht mit dem üblichen bedeutungslosen Geschwätz aufgehalten, sondern haben direkt das ausgesprochen, was uns beschäftigt. Ich finde das großartig! Und zu Beginn unserer Unterhaltung wollte ich eigentlich nur auf meine Körpergröße hinweisen. Wenn eine Frau klein ist, verspüren die meisten Männer das Bedürfnis, sie zu beschützen; sie halten dich für hilflos.«
»Und bist du hilflos?« Roxane neigte den Kopf zur Seite und sah das Mädchen fragend an.
»Natürlich nicht!«, protestierte Unity. »Aber ich werde trotzdem so behandelt. Allerdings bezweifle ich, dass Sie jemals für hilflos gehalten werden, Miss Sheffield.«
»Das will ich auch nicht hoffen«, erklärte Roxane im Brustton der Überzeugung.
»Tatsächlich?« Unity trat näher heran und hakte sich bei Roxane unter. Dann drückte sie ihre zarten Finger gegen deren Ellbogen.
»Natürlich.« Roxane ließ sich von dem Mädchen aus dem Salon in die Eingangshalle führen. »Wohin bringst du mich? Ich wollte auf deine Mutter warten.«
»In mein Zimmer«, erwiderte Unity. »Sie sehen furchtbar aus.«
Roxane warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Und du, Miss Stanton, nimmst kein Blatt vor den Mund. Das bewundere ich, auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was du sagst. Aber ich sehe wirklich schrecklich aus, und ich habe mich gerade gefragt, wann ich endlich etwas dagegen unternehmen
Weitere Kostenlose Bücher