Pan Tau
sofern sie überhaupt abfallen müßten.
Er streichelte seinen Echinocactus myriostigma mit den Blicken (ihn zu berühren, wagte er nicht), dann ging er in die Küche, um sich sein bescheidenes Mittagessen zu bereiten. Tee. Ein Ei. Toastbrot. Möhren. Mehr nicht. Seit kurzem hielt er Diät. Denn er sagte sich: Ich muß abnehmen.
Von all dem wußte Pan Tau nichts. Er saß in der dunklen Aktentasche und fühlte sich sehr unbehaglich. Denn der Verschluß der goldverzierten Flasche hatte sich gelockert, und der Duft von Nußöl, Pfefferminz und Eukalyptus war nun geradezu unerträglich.
Die Flasche lag jetzt quer in der Aktentasche. Pan Tau konnte die letzten Buchstaben lesen:
arwuchsmittel Es war klar. Das war das einzige erfolgreiche Haarwuchsmittel.
Pan Tau begriff. Und er entschloß sich zum Handeln. Er kletterte an den Falten des Seidenfutters zum Reißverschluß hinauf. Der war nicht ganz zugezogen. So konnte er aus der Aktentasche schlüpfen.
Das Zimmer war leer. Schnell verwandelte sich der kleine Pan Tau in einen großen Pan Tau. Wenn jemand jetzt Hilfe brauchte, so war es der Herr Lehrer mit seinen zweiunddreißig Haaren, die er vergeblich seitwärts zu kämmen versuchte! Und dann dieses armselige Essen, das sich der Lehrer da in der Küche zubereitete. Ein Ei. Zwei Toastbrote. Zwei Möhren. Pan Tau wurde traurig zumute. Er griff nach seiner Melone.
Zwei Stück Zucker? Oder drei? Der Tee in der Kanne duftete verführerisch. Der Herr Lehrer zauderte. Er entschloß sich: Zwei Stück Zucker, denn ich habe heute bereits genug genascht. Er warf zwei Stück Zucker in den Tee und wollte die Kanne zum Tisch tragen. Er trug sie nicht hin. Vor Schrecken ließ er sie aus der Hand fallen. Das Ei, auf das er sich schon freute, war weg. Ebenso die Möhren und die beiden Toastbrote. Er glaubte, das Opfer einer räuberischen Verschwörung zu sein. Der Tisch bog sich unter der Last der Speisen, die ihm der Arzt verboten hatte. In der Mitte lag eine knusprig gebratene Ente, daneben ein gespickter Fasan und ein Rehbraten in Rahmsoße.
»Schweinefleisch chinesisch! Pudding Diplomat! Himmel, meine Diät!«
Schwerer Bordeaux. Hummern, Langusten und Kaviar. Weinbergschnecken mit Kräuterbutter.
Er schloß lieber die Augen. Mit dem Rücken zur Tür wankte er aus der Küche, um den Verführungen die Stirn zu bieten. Der Duft der gebratenen Ente verfolgte ihn bis ins Vorzimmer. Vergeblich durchsuchte er die Wohnung. Derjenige, der ihm das Essen vertauscht hatte, war entflohen.
Samt dem Ei.
Und den Möhren.
Es war ein perfektes Verbrechen, fast wie das Rätsel des Grünen Zimmers. Diesen Krimi hatte er in einem zerfetzten Heftchen gelesen, das er dem Schüler Andermann weggenommen hatte. Auch dort fehlte die Lösung des Rätsels. Die letzten zwei Seiten hatte der Schüler Andermann nämlich verloren. Der Text endet mit dem Satz: »Alles ist klar«, rief der Inspektor triumphierend, »der Schlüssel zu dem Rätsel...« Aus.
Das Rätsel blieb ein Rätsel. Nur eines tröstete den Herrn Lehrer. Der Verbrecher (wer immer es auch war) hatte wenigstens die Kakteen in Ruhe gelassen. Gott sei Dank. Lehrer Radetzky griff in die Aktentasche und öffnete voll Zuversicht die Flasche, um das einzige erfolgreiche Haarwuchsmittel, Tausende von Dankschreiben, auszuprobieren. Es fiel ihm nicht im Traum ein, daß er eben den Schlüssel zu dem Rätsel in der Hand gehalten hatte. Die Aktentasche. Das Püppchen mit Melone, das er in der Schule in die Aktentasche gesteckt hatte und das jetzt auf geheimnisvolle Weise verschwunden war, hatte er schon vergessen.
Pan Tau jedoch hatte den Herrn Lehrer und seine großen Wünsche nicht vergessen. Vor allem wollte er auch den Fehler mit dem Mittagessen wieder gutmachen. Er trommelte auf die Melone. Das Haarwuchsmittel in ein Zauberhaarwuchsmittel zu verwandeln, war kinderleicht...
Pan Tau wurde bleich.
Das ganze Zimmer duftete nach Nußöl, Pfefferminz und Eukalyptus. Der Verschluß der goldverzierten Flasche war abgesprungen. Ein Nebel von Spray erfüllte den Raum. Ein paar Tropfen des Haarwuchsmittels fielen auf den Kaktus zwischen den Spiegeln. Aus den Stacheln begannen Silberfäden zu wachsen.
Der Lehrer war wie vom Donner gerührt.
Vor seinen Augen verwandelte sich sein glatter Kaktus in einen haarigen Kaktus. Das Haarwuchsmittel funktionierte einwandfrei. Wie im Fieber griff Herr Radetzky nach dem Ratgeber für Kakteenfreunde. Dann nach dem Telefonhörer. Er wählte die Nummer der Schule und
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