Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
willst, wirst du dich wohl darauf einlassen müssen.« Zögernd fügte Vivana hinzu: »Ich habe ihr außerdem vorgeschlagen, dass du ihr deine Geschichte erzählst. Wer du wirklich bist und was du vorhast.«
»Du weißt doch, dass ich das nicht kann«, erwiderte er mit einem Anflug von Ärger. »Es ist zu riskant.«
»Du hast von meiner Tante nichts zu befürchten. Sie ist verschwiegen. Und sie hasst Lady Sarka und Corvas genauso sehr wie du.«
Liam wirkte nicht überzeugt.
Vivana musste sich bemühen, nicht die Geduld zu verlieren. Wie konnte es sein, dass zwei vernünftige, kluge und ehrliche Menschen wie Liam und ihre Tante einander so viel Misstrauen entgegenbrachten? »Die Manusch haben viele Feinde«, erklärte sie. »Tante Livia versucht nur, ihre Familie und ihr Volk vor Schaden zu bewahren. Kannst du das nicht verstehen?«
»Ich habe auch Feinde.«
»Sicher. Aber meine Tante gehört nicht dazu.«
»Wenn ich wenigstens wüsste, ob dieses ominöse Manuschmittel den ganzen Aufwand wert ist«, meinte Liam.
»Ist es. Glaub mir.«
Sie konnte ihm ansehen, wie er mit sich rang. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich rede mit ihr und lasse mich prüfen … Was auch immer das heißt.«
Vivana atmete innerlich auf. »Komm mit«, sagte sie und griff unwillkürlich nach seiner Hand, als sie losging.
Liam hatte noch nie einen Manuschwagen von innen gesehen. Neugierig blickte er sich um, nachdem er Vivana durch die bemalte Tür gefolgt war, betrachtete die Zedernholztruhen, die Kräuterschnüre an der Decke, die alten Bücher auf dem Regalbrett. Ein kaum merklicher Duft lag in der Luft, würzig und exotisch. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie fremd ihm die Welt der Manusch war. Worauf hatte er sich nur eingelassen?
Vivanas Tante saß an einem Tisch, auf dem ein kleiner Lederbeutel lag. »Ich nehme an, Vivana hat dir gesagt, was ich tun will«, sprach sie ihn ohne Umschweife an.
»Ja.«
»Gut. Dann lass uns gleich anfangen. Setz dich.«
Vivana hatte sich auf einer Truhe niedergelassen und nickte ihm aufmunternd zu, woraufhin er an dem Tischchen Platz nahm. Er konnte immer noch die Berührung ihrer Finger auf seiner Hand spüren. Das gab ihm ein wenig Sicherheit.
Vivanas Tante öffnete den Lederbeutel und holte einen kleinen Gegenstand heraus.
Eine Perle, makellos und schwarz wie ein Stückchen reinste Dunkelheit.
Die Wahrsagerin legte sie in seine geöffnete Hand.
»Wofür ist das?«, fragte er.
»Die Perle hilft mir herauszufinden, ob ich dir trauen kann.«
»Genügt es nicht, dass ich Ihnen mein Wort gebe?«
»Nein«, sagte die Manusch entschieden.
Er warf Vivana einen fragenden Blick zu. Sie zuckte nur mit den Schultern. Offenbar war ihr diese Prozedur genauso fremd wie ihm.
»Sieh mich an«, befahl ihre Tante.
Liam wandte sich zu ihr um und verspürte im gleichen Moment ein Kitzeln auf seiner Handfläche. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Aus der Perle wuchsen Beine . Sie verformte sich, bildete einen zweigeteilten Körper und Beißscheren, wurde innerhalb weniger Augenblicke zu einer Spinne aus Perlmutt. »Was … was ist das?«, stammelte er.
Vivanas Tante gab keine Antwort, blickte ihn nur abwartend an. Liam war vor Entsetzen wie gelähmt. Plötzlich setzte sich das schwarzschimmernde Geschöpf in Bewegung und krabbelte seinen Arm hinauf.
Er erwachte aus seiner Erstarrung, sprang mit einem panischen Ächzen auf und versuchte, die Spinne abzuschütteln. Doch so heftig er sich auch bewegte, sie fiel einfach nicht herunter. Sie klammerte sich irgendwie an seinem Ärmel fest, und er konnte durch das Tuch spüren, wie die dünnen Beine in seine Haut pieksten. »Vivana!«, schrie er und schlug nach der Spinne, verfehlte sie jedoch.
Vivana war aufgesprungen. »Sie ist auf deiner Schulter. Warte, ich helfe dir …«
»Nein, wirst du nicht«, sagte ihre Tante scharf. »Setz dich wieder hin.«
»Mach sie weg!«, schrie Liam, während er sich im Kreis drehte und sich dabei auf die Schulter schlug, ohne die Spinne zu erwischen.
»Stillhalten«, rief Vivana. Aus dem Augenwinkel sah er, dass
sie mit einem Buch ausholte. Gleichzeitig verspürte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Im nächsten Moment streifte ihn das Buch, und die Spinne flog durch den Raum. Sie landete auf dem Tisch, wo sie liegen blieb und hilflos mit den Beinen zappelte.
Ein warmes Taubheitsgefühl folgte auf den Schmerz und breitete sich vom Nacken über das Rückgrat in seinem gesamten Körper aus. Zuerst waren
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