Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
sie deswegen nicht.
Er fand Vivana auf der anderen Seite des Platzes, wo sie im Schatten stand.
»Hallo, Liam«, sagte sie lächelnd.
Er hätte sie beinahe nicht erkannt, denn statt ihres bunten Rocks trug sie eine schlichte Hose, ähnlich seiner eigenen, sowie abgenutzte Lederschuhe und ein helles Leinenhemd, das ihr ein wenig zu groß war. Sogar darin sah sie hübsch aus. Er räusperte sich, als ihm klarwurde, dass er sie anstarrte. »Wo hast du Ruac gelassen?«, erkundigte er sich.
»Zu Hause. Die Leute reagieren manchmal komisch auf ihn.«
»Vorgestern hattest du ihn doch auch dabei.«
»Naja, das war im Labyrinth. Dort ist alles ein bisschen anders.«
Sie setzten sich auf den Bordstein vor dem Hoftor eines Hotels. Das Schweigen, das sich einstellte, war keins von der Sorte, bei der man sich den Kopf zerbrach, was man als nächstes sagen könnte, nur damit es aufhörte. Liam genoss es einfach, neben ihr zu sitzen.
Währenddessen versank die Sonne hinter den Dächern, und die Grenze zwischen Schatten und Licht wanderte langsam an der Turmmauer nach oben. Bald erstrahlte nur noch die Spitze in rostrotem Glühen.
»Er ist wunderschön, nicht wahr?«, sagte Vivana.
»Ja.«
»Hast du gewusst, dass er das älteste Gebäude Bradosts ist?«
Liam betrachtete das Mauerwerk. Es wies keine Fenster auf, denn der Turm war vollständig massiv. Weder Treppen noch Leitern führten zur Spitze hinauf. »Ich habe mich immer gefragt, wer ihn gebaut hat.«
»Der Legende nach hat ihn der Phönix selbst errichtet, als er nach Bradost kam.«
Liam kannte diese Geschichte, genau wie alle anderen, die sich um den Phönix rankten. Sein Vater hatte sie ihm erzählt, als er klein gewesen war.
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie er verschwunden ist?«, fragte Vivana.
»Ich weiß noch, dass es ein eiskalter Morgen war.«
Sie nickte. »Ich bin von seinem Schrei aufgewacht. Ich bin zum Fenster gerannt und habe gesehen, dass er fort war. Einfach verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Ich glaube, ich habe mich noch nie so einsam gefühlt.«
Liam wusste, was sie meinte. Er hatte genauso empfunden.
Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Was hast du an diesem Morgen gemacht?«
»Ich bin früh aufgewacht, genau wie du. Als ich gesehen hatte, dass der Phönix nicht mehr da war, wollte ich meine Eltern wecken, aber sie wussten es schon. Gemeinsam sind wir hierhergegangen, so wie die halbe Stadt. Irgendwann ist uns wohl klar geworden, dass er nicht zurückkommen würde, und meine Mutter hat mich in den Arm genommen. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah.« So viel hatte er gar nicht erzählen wollen. Verlegen zuckte er mit den Schultern.
»War das lange, bevor sie gestorben sind?«
»Meine Mutter starb vor anderthalb Jahren. Mein Vater vor zwei Wochen.«
»Oh«, murmelte sie. »Erst vor zwei Wochen?«
Liam nickte.
»Tut mir leid. Ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
»Macht nichts.« Er sah ihr an, dass etwas sie beschäftigte. »Was ist?«
»Ach, nichts.«
»Nun sag schon.«
»Ich habe mich nur gefragt, ob du deswegen einen anderen Namen angenommen hast«, begann Vivana zögernd. »Weil dein Vater gestorben ist, meine ich.«
Liam wusste, dass er nicht mit ihr über diese Dinge sprechen sollte. Aber er hatte diese ewige Geheimniskrämerei satt, und er war es leid, dass in beinahe jedem Gespräch unweigerlich der Moment kam, an dem er entweder schweigen oder lügen musste. Was war schon dabei, wenn er ihr ein wenig von seiner Vergangenheit erzählte? Schließlich hatte sie ihm versprochen, sein Geheimnis zu wahren. »Mein Vater wurde umgebracht«, sagte er. »Corvas hat ihn ermordet. Wenn er gewusst hätte, dass
ich in der Stadt bin, hätte er mich festgenommen und eingesperrt. Ich musste untertauchen und einen anderen Namen annehmen, damit er mich nicht findet.«
Falls diese Enthüllung sie erschreckte, so zeigte sie es nicht. Liam studierte ihr Gesicht und gewann den Eindruck, als hätte sie so etwas erwartet.
»Aber du wohnst im Palast«, erwiderte sie. »Dort begegnest du Corvas jeden Tag.«
»Er weiß nicht, wer ich bin. Er glaubt, ich hätte die Stadt schon vor Wochen verlassen.«
»Wieso hast du nicht? Anderswo wärst du viel sicherer.«
»Ich habe meine Gründe«, antwortete er knapp.
»Warum erzählst du mir das alles? Ich meine, ich könnte ein Spitzel der Geheimpolizei sein oder so.«
Er grinste. »Bist du einer?«
»Klar. Ich bessere mein Taschengeld auf,
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