Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
das Blut weg, das ihm ins Auge rann.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Vivana. Sie suchte ihre Hosentaschen nach einem Tuch ab. Als sie keines fand, fing sie an, ihren Ärmel zu zerreißen.
»Was machst du da?«
»Du hast eine ganz schöne Schramme.« Sie faltete einen Fetzen Stoff zusammen, den sie behutsam auf seine Augenbraue presste.
»Danke«, murmelte er.
»Halt es fest. Es sieht nicht schlimm aus. Es müsste gleich aufhören zu bluten.«
Sie setzte sich neben ihn. Das Geschrei der Menge und das Donnern der Pistolen klangen weit entfernt.
»Diese Bastarde«, sagte Vivana nach einer Weile. »Die Leute haben ihnen überhaupt nichts getan. Sie wollten nur in Ruhe den Phönixtag feiern.«
Es dauerte eine Weile, bis das Entsetzen von Liam abfiel. Das war nicht der erste Aufruhr, den er erlebt hatte, aber noch nie zuvor hatte er die Gewalt so unmittelbar erfahren.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er schließlich. »Soll ich dich nach Hause bringen?«
»Lass uns lieber einen Arzt suchen, der sich deine Wunde ansieht.«
»Ich brauche keinen Arzt.«
»Bist du sicher?«
»Es hat schon aufgehört zu bluten.«
Vivana sah ihn an und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Danke, dass du mir geholfen hast.«
Er grinste schief. »Wer hat hier wem geholfen?«
»Hör auf, Liam. Ich saß da oben ziemlich in der Klemme. Wer weiß, was ohne dich passiert wäre.«
»Reiner Eigennutz. Ich hätte deinem Vater nur ungern erklären wollen, dass seine Tochter zertrampelt wurde.«
Sie musste lachen. »Ja, das hätte eurer Freundschaft wahrscheinlich nicht gut getan.« Sie schien in der kühlen Abendluft zu frösteln und schlang die Arme um den Oberkörper. »Eine Bitte: Sag ihm nicht, wo wir waren. Er macht sich auch so schon zu viele unnötige Sorgen um mich.«
»So schlimm?«
Sie verzog den Mund. »Ich sollte jetzt gehen. Besser, ich bin zu Hause, bevor er von der Werkstatt kommt.«
»Lass mich lieber mitkommen. In den Straßen wird es vor Soldaten nur so wimmeln.«
»Also gut«, murmelte sie.
Bewaffnete hatten die Chimärenbrücke abgeriegelt, weshalb sie am Ufer entlanggingen und den Fluss weiter östlich überquerten.
Im Chymischen Weg und dem Kessel war von dem Aufruhr nichts zu spüren, und sie begegneten nur einer einzigen Patrouille, die sie jedoch in Ruhe ließ. Wenig später kamen sie zu Quindals Haus.
»Alles dunkel«, stellte Vivana erleichtert fest. »Er macht offenbar wieder Überstunden.« Sie schloss die Tür auf.
Liam blickte zum Phönixturm. Der Platz war weit entfernt, aber da Quindals Haus auf einem Hügel stand, konnte er ihn dennoch erkennen. Schatten bewegten sich im Feuerschein, hin und wieder trug der Wind fernes Geschrei und Schüsse herauf. Es sah nicht danach aus, als wäre der Aufruhr bald zu Ende. »Das war wohl der letzte Phönixtag«, sagte er.
»Meinst du?«
»Ich glaube nicht, dass Lady Sarka weitere öffentliche Versammlungen dulden wird. Nicht nach allem, was in letzter Zeit passiert ist.« Er wandte sich zu Vivana um. »Also dann …«
Sie lehnte am Türrahmen. »Normalerweise wäre das jetzt der Moment, sich für den schönen Abend zu bedanken, aber das einen schönen Abend zu nennen wäre etwas seltsam, oder?«
Er lachte. »Allerdings.«
Sie schwiegen. Liam wollte sich nicht einfach von ihr verabschieden, als wäre nichts gewesen, und er spürte, dass es ihr ebenso erging.
»Und du bist wirklich sicher, dass mit deinem Auge alles in Ordnung ist?«, fragte sie.
»Ich denke schon.«
»Lass es mich lieber noch einmal ansehen. Mein Vater hat irgendwo ein Mittel zum Desinfizieren.«
Er nickte. »Ich warte hier draußen.«
»Unsinn. Du kannst dich in den Salon setzen, während ich danach suche.«
Sie gingen hinein. Im Salon machte Vivana Licht. Ruac kroch unter der Anrichte hervor und zischte vorwurfsvoll.
»Ich weiß, der Herr hat Hunger«, sagte Vivana. »Aber du musst dich noch einen Moment gedulden.«
Liam nahm in einem Lehnstuhl Platz, während sie im Nebenraum verschwand. Zu seiner Überraschung kletterte Ruac auf seinen Schoß und machte es sich dort bequem.
»Seine Schuppen sind warm«, sagte er, als Vivana zurückkam.
»Mit der Temperatur seiner Schuppen drückt er seine Gefühle aus. Warm bedeutet, dass er dich mag.«
Allerdings ging Ruacs Zuneigung nicht so weit, dass er darüber seinen Hunger vergaß. Vivana hatte den Napf kaum auf den Boden gestellt, da sprang der Tatzelwurm schon von Liams Knien und machte sich über die Fleischbrocken
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