Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
Schmutzige Kleider hingen über einer Stuhllehne. Auf dem kleinen Tisch stand ein Krug mit Wasser.
Im Bett lag ein Junge.
Er mochte vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, war recht mager und hatte blasse Haut und rote Haare. Ein ganz normaler Heranwachsender, dem man die Fähigkeiten, die in ihm schlummerten, nicht im Mindesten ansah.
Um sicherzugehen, berührte Lucien den Jungen behutsam an der Stirn.
Ja. Ein Traumwanderer. Seine Gabe erwachte gerade erst, was vermutlich die Erklärung dafür war, warum Aziel noch nichts davon wusste. Aber Lucien spürte auch, dass seine Kräfte rasch wuchsen.
Lady Sarka hatte den Harlekin befreit, damit er Aziel besiegte und mit den Alben die Welt verließ. Nun stellte sich heraus, dass in ihren Diensten ein Traumwanderer stand.
Was hatte sie vor?
Der Junge regte sich, als Lucien seine Hand fortnahm. Er öffnete die Augen und blickte den Alb verschlafen an.
»Du kannst mich sehen?«, fragte Lucien. Nur außergewöhnliche Menschen waren dazu fähig, seine Unauffälligkeit zu durchschauen. Menschen wie Corvas.
Der Junge blinzelte verwirrt. »Schlaf«, flüsterte Lucien, woraufhin er auf das Kissen zurücksank, die Augen schloss und regelmäßig zu atmen begann. Vermutlich würde er sich nach dem Aufwachen nicht mehr an seinen Besucher erinnern.
Wenig später eilte Lucien durch die glasartigen Tunnel unter dem Palast. Er durfte Aziel nichts von seiner Entdeckung verraten. Aziel fühlte sich bedroht wie noch nie zuvor. Wenn er erfuhr, dass die Lady einen Traumwanderer gefunden hatte, wäre dessen Leben in Gefahr. Lucien liebte die Menschen - er liebte sie viel zu sehr. Er würde es nicht ertragen, wenn dem Jungen seinetwegen etwas zustieße.
Er hatte keine andere Wahl, als unterzutauchen, bis er wusste, was er tun sollte.
27
Phönixtag
E s war früh am Abend, als Liam den Palast verließ. Im Westen glich der Himmel einem flammenden Streifen, und die Gassen und Kanäle der Altstadt versanken allmählich in Schatten. Wind strich raschelnd über die Platanen am Straßenrand, trieb Staub und Abfall vor sich her und verwehte den Aetherdampf, der golden von den Schloten des Kessels aufstieg.
Kaum hatte Liam das Magistratsgebäude hinter sich gelassen, konnte er den Phönixturm sehen. Wie eine Nadel überragte das schlanke Gebäude die benachbarten Stadthäuser und zeichnete sich dunkel vor dem Abendhimmel ab. Die Spitze mit ihren sechs steinernen Bögen ähnelte einer Laterne, der Turm selbst bestand aus Gestein, das viel Rost enthielt und von innen heraus zu glühen schien, wenn das Sonnenlicht im richtigen Winkel darauf fiel.
Liam konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Phönixtag entstanden war. Vor sieben Jahren, auf den Tag genau zwölf Monate nach dem Verschwinden des Phönix, hatte ein Unbekannter neben dem Turm ein Feuer angezündet, um des alten Wächters von Bradost zu gedenken und ihm zu zeigen, wie sehr er der Stadt fehlte. Seitdem versammelten sich Jahr für Jahr Menschen auf dem Platz, entzündeten Feuer, die bis zum nächsten Morgen brannten, und zogen um Mitternacht mit Fackeln durch die Straßen, um den Phönix zu bitten, zurückzukehren und wieder über die Stadt zu wachen. Lady Sarka
duldete diese Tradition, obwohl sie normalerweise öffentliche Festlichkeiten aller Art zu unterbinden versuchte, aus Angst vor Aufständen. Sie wusste, wie viel der Phönixtag den Menschen bedeutete. Ihn zu verbieten hätte die Leute nur noch unzufriedener gemacht, als sie ohnehin waren.
Liam fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, während er die Chimärenbrücke überquerte. Er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, sich ausgerechnet hier mit Vivana zu treffen. Der Phönixtag erfreute sich bei den Bewohnern Scotias großer Beliebtheit. Es war nicht ausgeschlossen, dass ihn jemand erkannte.
Als er kurz darauf den Platz erreichte, stellte er fest, dass diesmal nur wenige Menschen gekommen waren, verglichen mit den Vorjahren. Vermutlich hatte die angespannte Stimmung in der Stadt die meisten veranlasst, zu Hause zu bleiben. Unauffällig blickte er sich um. Nirgendwo ein bekanntes Gesicht. Er beruhigte sich etwas.
Die Leute hatten bereits begonnen, Reisig und Holz zu großen Haufen aufzuschichten. Natürlich waren auch Soldaten anwesend. Sie stützten sich auf ihre Hakenlanzen und beobachteten wachsam das Geschehen. Zusätzlich hockten Dutzende von Krähen auf den unteren Turmsimsen. Lady Sarka mochte den Phönixtag dulden - weniger vorsichtig war
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