Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
andere.
Wie wenig damals genügt hatte, sie glücklich zu machen.
Sie warf noch einen Stein. Noch ein Schatzsucher, der der Gefahr ins Gesicht lachte und furchtlos in die Tiefen hinabtauchte. Allmählich gingen ihr die Kiesel aus. Sie überlegte, woanders hinzugehen, ein wenig den Kanal hinauf, zum Fluss. Am Ufer könnte sie nach Süden gehen, zur Chimärenbrücke. Irgendwie sehnte sie sich danach, den Phönixturm zu sehen. Vielleicht würde ihr der vertraute Anblick das Gefühl geben, endlich zuhause zu sein.
Außerdem wollte sie weg. Vom Labyrinth, von ihrer Familie, weg von allem.
Als sie gerade losmarschierte, entdeckte sie Tante Livia. Die Wahrsagerin bog die Brombeersträucher zur Seite, die hinter Bajos Haus wuchsen, und kam auf sie zu.
»Hier bist du«, sagte sie. »Wir haben dich überall gesucht.«
»Lass mich in Ruhe. Ich muss nachdenken.«
Livia erholte sich allmählich von den Strapazen des Rituals. Sie hatte frische Kleider angezogen und wirkte nicht mehr ganz so bleich und ausgelaugt. »Liam geht es besser. Er hat nach dir gefragt.«
Vivana zog die Nase kraus. »Ach ja?«
»Ich finde, du solltest mit ihm reden.«
»Ich halte das für keine gute Idee.«
Die Wahrsagerin legte ihr die Hand auf die Wange. »Komm wenigstens ins Haus«, bat sie. »Du solltest jetzt nicht allein sein.«
»Der Dämon hatte recht«, sagte Vivana leise und musste gegen die Tränen ankämpfen. »Er hatte von Anfang an recht.«
»Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Woher willst du das wissen? Du hast doch gehört, was Liam gesagt hat.«
»Rede mit ihm«, wiederholte die Manusch. »Reden hilft immer, glaub mir.«
Vivana folgte ihrer Tante zum Haus, obwohl sie davon überzeugt war, einen Fehler zu machen. Die Manusch hatten sich im großen Saal versammelt. Bajos Familie bildete einen Kreis um Madalin und Nedjo, die den staunenden Zuhörern von ihren Abenteuern im Pandæmonium erzählten und ihre Erlebnisse in den buntesten Farben ausschmückten. Vivana war nicht in Stimmung für ihre Fragen und mitleidigen Blicke. Sie blieb im Innenhof stehen. »Wo ist er?«
»Im Zimmer neben der Küche. Dein Vater ist bei ihm.«
Vivana ging durch die Waschküche, damit sie nicht den Saal durchqueren musste, und klopfte an der Tür des Nachbarzimmers an. Ihr Vater saß an Liams Bett. Das Gespräch der beiden verstummte, als sie hereinkam.
»Ich lasse euch dann mal allein«, sagte ihr Vater und schlurfte davon.
Liam hatte sich im Bett aufgesetzt. Er sah viel besser aus als heute Morgen. Er hatte sich gewaschen und trug einen sauberen Morgenrock von Bajo. Vivana hatte ihn richtig eingeschätzt: Er war stark. Er schien den Einfluss des Dämons ohne größere Schäden überstanden zu haben.
»Hallo Vivana.«
Als sie nichts sagte, meinte er: »Willst du dich nicht setzen? «
Sie schob die Hände in die Ärmel ihrer Weste. »Dir geht es besser, oder?«
Er nickte. »Deine Tante hat mir einen Trank gegeben. Und die andere Manusch …«
»Esmeralda.«
»Sie hat meine ganzen Schrammen mit Salbe eingerieben. Ein paar Tage, dann bin ich wieder auf dem Damm.«
Sie schwiegen. Ich hätte nicht auf Livia hören sollen , dachte Vivana verdrossen. »Ich gehe jetzt besser. Du brauchst bestimmt deine Ruhe.«
»Ich bin nicht müde.«
»Bis später, Liam.«
»Warte«, sagte er. »Bleib. Bitte.«
»Du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich komme schon damit klar.«
Es dauerte einen Moment, bis er verstand, wovon sie sprach. »Es ist wegen heute Morgen, nicht wahr? Wegen dem, was ich gesagt habe.«
Sie rollte mit den Augen und ging zur Tür.
»Es tut mir leid, Vivana. Ich wollte das nicht.«
»Du hast gesagt, du erträgst meine Berührung nicht«, fuhr sie ihn an. »Nach allem, was passiert ist.«
»Das hatte nichts mit dir zu tun.«
»Mit was dann?«
Liam suchte lange nach Worten. »Weißt du, wie das ist, wenn man einen Dämon in sich hat? Du kannst dir das nicht vorstellen. Als wäre man lebendig begraben. Ich habe mich vor mir selbst geekelt. Mein Körper hat sich angefühlt wie ein … wie ein totes Stück Fleisch.«
Vivana sah ihm an, wie sehr ihm die Erinnerung daran zu schaffen machte. »Und deshalb wolltest du mich nicht in deiner Nähe haben?«
»Ich wollte allein sein, verstehst du? Bis ich wieder wusste, wer ich bin.«
Sie setzte sich. Plötzlich kam sie sich kleinlich und egoistisch vor. Sie hatte nur an ihre eigenen Wünsche gedacht und sich kein einziges Mal gefragt, wie er sich fühlte, nach all dem Leid, das er
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