Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Röcke und kam zu ihr gelaufen. »Hast du das Herz?«
»Ja, hier.«
Die Wahrsagerin nahm es. »Es hat ihn berührt. Vielleicht genügt es.« Sie begann mit einer neuen Beschwörungsformel.
Augenblicklich erlahmte die Gegenwehr des Dämons. Bajo und Madalin nutzten die Gelegenheit und ergriffen seine Arme. Vivanas Vater und Lucien setzten sich auf seine Beine. Liams Gesicht verzerrte sich, als erleide er unsagbare Qualen, und er öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Ein erneuter Krampf durchlief seinen Körper. Schließlich versteifte er sich.
Die Kraftwelle, die durch den Kellerraum rollte, war so machtvoll, dass Vivana und ihre Gefährten umgeworfen wurden. Die Schriftzeichen auf den Steinplatten glühten auf, so hell und gleißend, dass es in den Augen schmerzte – und erloschen.
Liam lag reglos da.
Vivana rappelte sich auf und lief zu ihm. Er atmete – unregelmäßig zwar, aber er atmete. Der Ausdruck der Bosheit war aus seinem Gesicht verschwunden. Der Dämon war fort, sie konnte es spüren.
»Macht ein Feuer«, befahl Tante Livia. »Beeilt euch.«
Das Herz lag auf dem Boden. Rauch drang aus Adern und Rissen im Gewebe. Es begann, von innen heraus zu verbrennen.
Lucien schichtete die Überreste der Trage zu einem Haufen auf. Bajo zerschlug die Laterne auf dem Boden. Das auslaufende Öl fing sofort Feuer, das auf die Stoff- und Holzreste übergriff.
Livia warf das Herz in die Flammen.
Der widerwärtige Geruch gebratenen Fleisches breitete sich aus. Ein fratzenhaftes Gesicht erschien im Rauch, Flügel und mit Dornen versehene Gliedmaßen, die in die Luft griffen, als suchten sie nach Halt, bevor sie sich wieder auflösten. Die schemenhaften Umrisse verdichteten sich zu einer Form, und für einen Augenblick glaubte Vivana zu erkennen, wie der Dämon in seiner wahren Gestalt ausgesehen hatte: so ähnlich wie Nachach, nur kleiner und mit vier Schwingen auf dem Rücken wie ein monströser Schmetterling. Ein Schrei voller Schmerz und Qual erklang. Vivana hörte ihn nicht mit den Ohren – er hallte irgendwo in ihrem Kopf wider. Noch einmal breitete sich die Aura des Bösen im Raum aus, doch schon einen Moment später verflüchtigte sie sich und mit ihr die Gestalt im Rauch.
Es war vorbei.
Das Feuer sank herab, erlosch.
Bajo kroch zur Tür, öffnete den Riegel und stieß sie auf. Der Rauch zog ab, und der Gestank wich allmählich kühler Kellerluft. Die anderen kauerten oder lagen entkräftet auf dem Boden und schöpften Atem. Niemand sprach.
Eine halbe Stunde verstrich auf diese Weise.
Vivana war bereits bei ihrer Ankunft in Bajos Haus zu Tode erschöpft gewesen. Die Ereignisse der letzten zwei Stunden hatten ihre allerletzten Reserven aufgebraucht. Sie war so ausgelaugt, dass sie nichts empfand. Keine Erleichterung, keine Freude über ihren Sieg. Sie wollte nur noch schlafen.
Irgendwann hörte sie ein leises Stöhnen. Sie blickte zu Liam und sah, dass er sich bewegte. Mühsam richtete sie sich auf und kroch zu ihm.
Seine Lider flatterten.
»Hörst du mich?«
Er öffnete die Augen, sah sie an. Erkannte sie.
Sie hatte sich geirrt: Sie war doch noch in der Lage, etwas zu fühlen. Glück. Sie lächelte. »Liam«, sagte sie nur. »Liam.«
Sie berührte seine Wange. Er versuchte, etwas zu sagen, doch es dauerte einen Augenblick, bis sie ihn verstand.
»Nicht.«
Nicht? Sie begriff nicht, was er damit meinte, strich ihm über die Wange, den Hals.
»Hör auf«, flüsterte er.
Sie zog die Hand weg. Blickte ihn verwirrt an.
»Fass mich … nicht an«, murmelte er leise, kaum hörbar. »Bitte. Ich … ertrage das nicht.«
29
Neue Fragen und ein Abschied
D er Kanal floss so langsam, dass man die Strömung kaum wahrnahm. Auf dem moosgrünen Wasser spiegelten sich die verwitterten Ufermauern, die Pfosten eines morschen Bootsanlegestegs und das Gestrüpp, das überall zwischen den Steinen spross. Irgendwo spielten Kinder. Ihr Geschrei hallte durch die Hinterhöfe, seltsam körperlose Stimmen, die sich bald im fernen Lärm des Viertels verloren.
Vivana wusste nicht, wie lange sie schon auf der kleinen Treppe saß. Eine Stunde, vielleicht auch zwei. Ihre Finger ertasteten einen Kieselstein, sie pulte ihn aus dem Moos und warf ihn in den Kanal, wo er mit einem Platschen versank. Als Kind hatte sie sich vorgestellt, die Steine wären Taucher, die auf dem Grund des Wassers nach Schätzen suchten, und sie hatte Stunden damit zugebracht, sich Geschichten auszudenken, eine abenteuerlicher als die
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