Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
mitkommen.«
Liam hätte sich am liebsten geohrfeigt. Zu allem Überfluss machte er auch noch solche dummen Fehler. »Ach, eigentlich kann Lucien warten …«
Sie blickte ihn mit gespielter Strenge an. »Jetzt rede schon mit ihm. Das ist wirklich wichtiger. Ich bin ja bald wieder da.«
Sie stopfte den Sack in ihren Tragekorb und schulterte ihn. Draußen bat sie Nedjo, sie zu begleiten. Godfrey gab ihnen eine Karte der Tunnel, auf der er den Weg zur Alten Arena einzeichnete, deren Gewölbe mit den Katakomben verbunden waren.
»Grüß Ruac von mir«, sagte Liam, bevor sich Vivana mit einem Kuss auf die Wange von ihm verabschiedete. Er begleitete sie und Nedjo zum Tor und blickte ihnen nach, bis der Schein ihrer Laterne hinter einer Wegbiegung verschwand. In diesem Moment wünschte er sich sehnlichst, er könnte ein normales Leben führen, ohne Sorgen, ohne Angst vor den tausend Gefahren, die ihnen drohten, damit Vivana und er endlich richtig zueinanderfinden konnten, wie ein ganz normales Paar. Es gab so vieles, das er ihr sagen, das er von ihr erfahren wollte, doch hier, in Godfreys Versteck, zusammengepfercht mit ihren Gefährten und in ständiger Furcht vor Entdeckung, gab es keine Möglichkeit, länger als ein paar Minuten allein zu sein. Und selbst wenn es sie gegeben hätte, war da immer noch diese Abscheu vor seinem eigenen Körper, dieser Selbstekel, der ihm das Leben zur Qual machte wie ein tückischer Fluch. Zwar ging es ihm von Tag zu Tag besser, aber er wusste, dass er noch lange nicht damit fertig war. Und Vivana würde gewiss nicht ewig mit ihm Geduld haben.
Godfrey schloss das Tor. Liam seufzte und ging zurück zu den anderen.
Nach dem Frühstück blieben er, Lucien, Quindal und Livia sitzen und besprachen noch einmal ihre Möglichkeiten – die, wie alle wussten, sehr begrenzt waren. Als sich schon wieder Hoffnungslosigkeit breitzumachen drohte, sprach Liam etwas an, das im Durcheinander der letzten Tage untergegangen war.
»Als wir bei Bajo waren«, wandte er sich an Lucien, »da hast du gesagt, du wolltest noch einmal über den Phönix und den Bindezauber aus dem Gelben Buch nachdenken.«
Der Alb nickte.
»Hast du schon eine Idee, was wir deswegen machen könnten?«
»Heute Abend wollte ich ein paar Informationen einholen. Morgen weiß ich vielleicht mehr.«
»Willst du uns nicht sagen, was du vorhast?«, fragte Livia.
Lucien antwortete zögernd. »Ich hoffe, dass uns die Bleichen Männer helfen können.«
»Die Bleichen Männer?« Liam hätte beinahe gelacht. »Die aus dem Schauermärchen?«
»Genau die«, erwiderte der Alb ruhig.
»Das ist kein Märchen, Liam«, sagte Livia. »Es gab sie wirklich. Und einiges spricht dafür, dass sie immer noch da sind, irgendwo in der Stadt.«
Ihr Ton machte deutlich, dass sie es ernst meinte. Liam schluckte. »Und du willst zu ihnen gehen? Weswegen?«
»Zuerst einmal muss ich herausfinden, wo sie sind«, antwortete Lucien. »Und dann – mal sehen. Es gibt da ein paar Dinge, die ich klären muss.« Er hüllte sich in Schweigen.
Liam konnte sich gut an das Märchen von den Bleichen Männern erinnern, obwohl es viele Jahre her war, dass sein Vater es ihm erzählt hatte. Ein alter Kinderreim fiel ihm ein:
Grüne Spiegel, tote Augen
Lass dir nicht die Seel’ aussaugen
Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er hatte diese Geschichte noch nie gemocht.
Der Lampenschein schälte feuchtes Mauerwerk aus der Finsternis und glitzerte auf dem Wasser des Kanals, das dunkel und lautlos neben ihnen dahinströmte. Vivana ging mit der Laterne voraus, Nedjo folgte ihr dichtauf und trug den Korb mit dem Fleisch. Der Manusch sprach kaum ein Wort, denn wie die meisten von ihnen hatte er schlecht geschlafen. Vivana machte das nichts aus; es genügte ihr, dass er da war und sie nicht allein durch diese Tunnel wandern musste.
Außerdem konnte sie so in Ruhe über Liam nachdenken.
Sie wusste nicht, was sie von den vergangenen Tagen halten sollte. Es war schön, mit ihm zusammen zu sein, und sie genoss jede Minute, wenn sie redeten oder nur nebeneinandersaßen und gemeinsam ihre Gedanken treiben ließen. Aber dann gab es wieder Momente, in denen er sie unversehens zurückwies, weil er eine Berührung nicht ertrug, weil er allein sein musste. Sie verstand, warum er so reagierte, dennoch tat es ihr jedes Mal weh. Am schlimmsten war, dass sie ihm nicht helfen konnte. Er musste allein damit fertigwerden. Sie konnte nichts tun, als ihm zuzuhören oder ihn in den Arm
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