Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Ruinen alles andere als ungefährlich.
Schließlich versperrte ihnen ein Trümmerbrocken von der Größe des Bradoster Magistratspalastes den Weg. Der gewaltige Block war vermutlich von weit oben heruntergefallen und hatte im Umkreis von mehreren hundert Schritt den Uferfels zerschmettert. Das aschegraue Flusswasser staute sich dahinter und quoll schäumend durch die Engstelle zwischen der Barriere und der Steilwand. Die im Wasser gefangenen Seelen schrien hier besonders laut, so als litten sie Schmerzen.
Hinter dem Trümmerbrocken war die Ruine offenbar zu Ende – Vivana sah keine weiteren Pfeiler und Mauern, nur noch nackten Fels. Folglich hatten sie das gesamte Ufer innerhalb des Bauwerks abgesucht.
Müde suchten sie sich eine Stelle zum Rasten. Da in der Nähe des Flusses wegen der Schreie an Ruhe oder gar Schlaf nicht zu denken war, drangen sie tiefer in die Ruine vor. In einem kaum einsehbaren Hohlraum unter einem umgestürzten Pfeiler schlugen sie schließlich ihr Lager auf.
Gleich nach dem Aufwachen setzten sie die Suche fort. Die Ruine systematisch abzulaufen, war wegen der unregelmäßigen Architektur der Anlage und der zahllosen Hindernisse in Form von Schutthaufen, Felsspalten und Mauern so gut wie unmöglich. Vivanas Vater schlug deshalb vor, einen Lageplan des Bauwerks anzufertigen, damit sie wenigstens einen groben Überblick über das Gelände bekamen und nicht Gefahr liefen, im Kreis zu gehen. Er begann, auf einer Doppelseite seines Notizbuches eine Skizze anzufertigen. Lucien stand dem Vorhaben anfangs skeptisch gegenüber, doch als er feststellte, dass
Vivanas Vater über ein außergewöhnliches räumliches Vorstellungsvermögen verfügte und der Lageplan mit der Zeit Form annahm, schwanden seine Zweifel.
Viele Stunden lang wanderten sie durch die Ruinen, riefen Liams Namen, leuchteten mit ihrer Karbidlampe in dunkle Öffnungen – und fanden trotzdem nicht den kleinsten Hinweis darauf, ob Liam je hier gewesen war, geschweige denn, ob er noch lebte. Laut ihrer Karte hatten sie nicht einmal ein Zehntel des Bauwerks abgesucht. Vivana sagte sich immer wieder, dass sie Geduld haben musste, dass sie so lange nicht die Hoffnung aufgeben durfte, bis sie nicht auch den Rest durchkämmt hatten. Trotzdem schwand ihre Zuversicht zusehends. Die Ruine war so unübersichtlich, dass sie Liam mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach übersahen, selbst wenn sie noch so gründlich suchten. Was, wenn er in einem der zahllosen Felslöcher lag, bewusstlos oder so schwer verletzt, dass er nicht auf sich aufmerksam machen konnte? Oder wenn er sich irgendwo in den unerreichbaren Höhen des Bauwerks befand, gefangen in einer fensterlosen Kammer tausend Schritt über dem Erdboden? Je länger Vivana darüber nachdachte, desto aussichtsloser erschien ihr ihre Suche, und am Ende des Tages war sie deswegen so verzweifelt, dass sie heimlich weinte.
Sie würden Liam niemals finden. Und sie würde nie erfahren, was mit ihm geschehen war.
Schließlich kehrten die Gefährten zu ihrem Lagerplatz unter dem geborstenen Pfeiler zurück. Niedergeschlagen aßen sie ein paar Bissen und legten sich hin. Der Tatzelwurm passte auf sie auf, während sie schliefen. In den vergangenen Tagen hatten sie gelernt, seinen scharfen Sinnen zu vertrauen.
Deswegen war Vivana sofort hellwach, als Ruac sie mit der Schnauze anstieß. Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Messer. Es war still, abgesehen vom leisen Schnarchen ihres Vaters, der genau wie Lucien tief und fest schlief.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
Ruac züngelte und starrte mit aufgerichteten Rückenstacheln zum Eingang ihres Schlupflochs. Vorsichtig spähte sie nach draußen, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken.
Sie weckte ihre Begleiter. Ihr Vater brauchte eine Weile, um zu sich zu kommen. Lucien dagegen war augenblicklich munter und erfasste mit einem Blick auf Ruac die Situation.
»Ist da draußen jemand?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Irgendetwas hat Ruac gewittert. «
Er griff nach seinem Gürtel und zog einen Dolch. Als er gerade zum Eingang schleichen wollte, fiel etwas auf den Schutt, der in der Öffnung lag, und rutschte in den Hohlraum.
Vivana hielt vor Schreck die Luft an. Dann erst sah sie, um was es sich handelte.
»Meine Tasche!«, rief sie.
Sie hob das Lederstück auf. Kein Zweifel, es war die Umhängetasche, die sie mitgenommen hatte, als sie mit Liam in die Gemächer von Lady Sarka eingedrungen war. Mit zitternden Fingern öffnete sie die
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