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Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen

Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen

Titel: Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Lode
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abgesehen wies sie keine nennenswerten Schäden auf.
    Sie schwiegen, denn der Weg in den Abgrund war eine beklemmende Erfahrung. Mit jeder Stufe wurde der Dunst dichter, bis man das obere Ende der Felswand nicht mehr ausmachen konnte. Da der Boden der Schlucht noch lange nicht in Sicht war, hatte Vivana zeitweise das Gefühl, mitten im Nichts zu schweben – ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als sie die Stelle passierten, wo die gigantische Stiege von der Felswand wegführte. Wenig später war die Schluchtwand verschwunden, und Vivana sah nichts außer einem etwa hundert Schritt langen Ausschnitt der Treppe und einigen natürlichen Klippen links und rechts, umgeben von blassgoldenen Schlieren.
Manchmal erahnte sie riesenhafte Schemen im Dunst, vermutlich Teile der Ruine, doch sie befanden sich zu weit weg, als dass sie Einzelheiten hätte erkennen können.
    Irgendwann lichtete sich für einen Moment der allgegenwärtige Dunst, und sie erhaschten einen Blick auf eine kathedralenartige Decke mit steinernen Streben und Rippenbögen viele hundert oder gar tausend Schritt über ihren Köpfen. Lucien brach daraufhin das Schweigen und sprach aus, was sie alle dachten: »Ich glaube, wir sind schon längst im Innern dieses Bauwerks.«
    Vivana wusste, dass er Recht hatte, und doch gelang es ihr einfach nicht, sich diese Tatsache vorzustellen. Ein Gebäude, das so groß war, dass man gar nicht mitbekam, wenn man es betrat – unfassbar.
    Plötzlich hörten sie Schreie.
    Sie kamen von weit unten, aus den Tiefen der Schlucht. Klagelaute voller Qual, die meistens menschlich klangen, manchmal aber auch durch und durch fremdartig. Vivana beugte sich über die Brüstung, um herauszufinden, wer oder was sie ausstieß, aber da war nichts außer Dunst.
    »Wenigstens wissen wir jetzt, woher der Schreiende Fluss seinen Namen hat«, bemerkte ihr Vater.
    »Was ist da unten los?«, fragte Vivana. »Wer schreit dort?«
    »Ich schätze, das finden wir bald heraus«, erwiderte Lucien düster.
    Es zerrte an den Nerven, tiefer in den Dunst hinabzusteigen, während ununterbrochen Schreie aus der Tiefe heraufhallten, die mit der Zeit immer lauter wurden. Offenbar näherten sie sich dem Fluss, dem Quell der unheimlichen Laute. Wenn Vivana sich anstrengte, glaubte sie in der Ferne Wasserrauschen zu hören.
    »Halt«, sagte ihr Vater nach einer Weile. »Seht mal da.«
    Er deutete auf eine schattenhafte Gestalt, die sich vor ihnen
aus dem Dunst schälte. Eine Frau, eine verdammte Seele. Und sie war nicht allein: Nach und nach kamen weitere Geistwesen zum Vorschein, eine ganze Schar, die die Brücke blockierte, versunken in Trance und Teilnahmslosigkeit.
    »An denen kommen wir nicht vorbei«, sagte Lucien. »Wir brauchen die Kerze.« Er öffnete seinen Rucksack, und kurz darauf verströmte die Zauberkerze ihr Licht.
    Die verdammten Seelen wichen zu den Rändern der Brücke zurück, als die Gefährten weitergingen, die durchscheinenden Gesichter von Furcht und Hass verzerrt. Von ihnen kamen die Schreie nicht – sie waren genauso stumm wie die Geistwesen, die sie am Tor getroffen hatten. Vivana und ihre Begleiter blieben dicht beisammen, denn die Seelen folgten ihnen und umringten sie außerhalb des Lichtscheins – ein Wall aus bleichen Leibern, aus dem gelegentlich ein tastender Arm wuchs, der rasch wieder zurückgezogen wurde, wenn er mit dem Kerzenlicht in Berührung kam.
    Lähmende Kälte ging von den untoten Geschöpfen aus. Vivanas Vater verteilte Decken, die sie sich über die Schultern warfen, was jedoch kaum etwas half.
    Als das Rauschen immer lauter wurde, trieb Lucien die verdammten Seelen mit der Kerze auseinander und trat an die Brüstung. Etwa fünfzig Schritt unter ihnen strömte der Fluss dahin und umspülte die Treppenpfeiler. Er bestand nicht aus Wasser, sondern aus einer aschefarbenen Flüssigkeit, die leicht nach Verwesung stank. Gesichter bildeten sich an der Oberfläche, Masken des Schmerzes und der Furcht, die die Münder aufrissen und Klagerufe ausstießen, bevor sie sich wieder auflösten und mit dem Fluss verschmolzen.
    »Was ist das?«, hauchte Vivana voller Entsetzen.
    »Verdammte Seelen«, antwortete Lucien, »gefangen im Fluss. Lass uns weitergehen.«
    Obwohl sie der Anblick der geisterhaften Gesichter zutiefst
verstörte, musste sie sich zwingen, sich von dem Fluss loszureißen. Sie wusste nicht, was schlimmer war: als untoter Schatten durch das Pandæmonium zu irren oder für immer Teil dieses Flusses zu sein,

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