Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Geschöpfe zu kontrollieren, und mehr als einmal fürchtete er, vor Erschöpfung zusammenzubrechen und seinem Verstand damit unheilbaren Schaden zuzufügen. Doch er meisterte auch diese Herausforderung. Und er wurde immer besser.
All das tat er, um sich auf seine unvermeidliche Konfrontation mit Aziel vorzubereiten. Immer neue Variationen des Kampfes dachte er sich aus und spielte sie durch, damit er mit jeder erdenklichen Situation fertigwerden konnte.
Die Traumsubstanz hielt erstaunlich lange. Erst nach einer Woche war sie aufgebraucht. In einem Seelenhaus, das die Boten gerade beliefert hatten, holte er sich neue.
Nicht nur Albträume konnte man mit der silbrigen Materie erschaffen, sondern alles, was einem in den Sinn kam: Mauern, hinter denen man sich verstecken konnte. Messerscharfe Dornen, die unversehens aus dem Boden wuchsen. Rüstungen, die einen vor Angriffen schützten. Und jede erdenkliche Waffe – Dolche, Schwerter, Äxte, Speere, Armbrüste und Pistolen. Jackon machte bei seinen Übungen ausgiebig davon Gebrauch. Er erschuf sich einen Helm und einen Brustpanzer, wie ihn die Soldaten von Lady Sarka trugen, befahl seinen Albträumen, ihn anzugreifen, und verteidigte sich, indem er Speere auf seine Kreaturen warf, mit dem Schwert nach ihnen schlug oder sie mit dornenbewehrten Keulen zerschmetterte. So lernte er nicht nur, Angriffe abzuwehren; auf diese Weise entdeckte er außerdem die Schwachstellen seiner Kreaturen und konnte sie beim nächsten Mal stärker und widerstandsfähiger machen.
Zu Anfang war es allein sein Pflichtbewusstsein, das ihn dazu trieb, Nacht für Nacht zu üben. Lady Sarka hatte ihm ein besseres Leben geschenkt, zum Dank dafür, dass er ihr diente – deshalb musste er tun, was sie befahl. Nach zwei Wochen jedoch begann er, Gefallen daran zu finden. Er hatte schon fast vergessen, wie großartig es sich anfühlte, seine Gabe zu entfalten und die Macht auszukosten, die er dadurch gewann. Es war wie in der unbeschwerten Anfangszeit seiner Ausbildung, als er seine erwachenden Kräfte benutzt hatte, um sich an seinen alten Feinden zu rächen – nur dass seine Fähigkeiten inzwischen weitaus größer waren.
Und sie wuchsen stetig weiter. Mit jedem Tag, den er auf dem kleinen Platz übte und Albträume aufmarschieren ließ, wurde er stärker. Lady Sarka hatte Recht: Bald würde er mächtig sein, mächtiger noch als Corvas und Umbra. In ganz Bradost würde man ihn fürchten. Und nicht nur in Bradost – überall da, wo Menschen träumten. In Torle, in Yaro D’ar, in jedem Land der Welt.
Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte Jackon bei dieser Vorstellung.
Am meisten freute ihn, dass Aziel ihn fürchtete. Während all der Wochen zeigte sich der Herr der Träume kein einziges Mal. Er wagte sich nicht aus seinem Versteck, aus Angst vor Jackons Macht. Manchmal saß Jackon auf dem Turm in der Nähe seines Seelenhauses, beobachtete den fernen Palast und wäre am liebsten vor seine Tore gesprungen, um Aziel aufzufordern, sich ihm zu stellen. Es war nicht so, dass er keine Angst mehr vor dem Herrn der Träume hatte – im Gegenteil, manchmal war seine Furcht so stark, dass er nicht schlafen konnte. Aber größer noch war sein Verlangen nach Rache, besonders an Tagen, wenn seine Verletzung trotz Doktor Addocks Heilkunst wieder zu schmerzen begann. Dann sehnte er sich danach, es Aziel heimzuzahlen.
Nicht mehr lange, und er würde stark genug sein, ihn herauszufordern.
All das erzählte er Liam. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jede Nacht zu dessen Seelenhaus zu gehen, durch die Flure und Zimmer zu wandern und darüber zu sprechen, was am Tag zuvor geschehen war. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen, wenn er bei seinen Übungen nicht weiterkam und ihn Zweifel und Ängste plagten. Denn während er das tat, hatte er das Gefühl, Liam höre ihm zu. Natürlich wusste er, dass das nicht sein konnte, aber das war ihm egal. Er war gerne hier. In den Kammern der Sternwarte fühlte er sich nicht ganz so einsam wie in Lady Sarkas Palast.
Er hatte aufgehört, darüber nachzugrübeln, warum das Seelenhaus noch nicht verschwunden war, obwohl Liams Tod inzwischen mehr als vier Wochen zurücklag. Er nahm es einfach hin, so wie all die anderen Veränderungen, die seit einiger Zeit die Stadt der Seelen heimsuchten. Vielleicht, dachte er eines Nachts, verschwand es nicht, weil er sich tagtäglich an Liam erinnerte.
Glaubten nicht manche Menschen, man sei erst dann wirklich tot, wenn niemand
Weitere Kostenlose Bücher