Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Alte.
»Wie bitte?«, fragte Paul, der sie nicht verstanden hatte und daher einen Schritt näher an sie herantrat. Das hätte er lieber nicht getan, denn er konnte auf einmal den strengen, süßlichen Geruch aus ihrer Wohnung riechen, der ihm förmlich die Luft abschnürte.
Er hatte als Kind einmal einen Hamster gehabt, der gestorben war, weil er vergessen hatte, das Haustier zu füttern. Der Geruch, als das kleine Ding verweste, ähnelte dem Gestank, der sich jetzt in seiner Nase festsetzte – der jedoch um das Hundertfache stärker war. Es roch, als verfaulte in der Wohnung der Alten eine ganze Kuhherde. Unwillkürlich taumelte Paul zurück. Während er sich die Nase zuhielt und versuchte, möglichst flach zu atmen, kam plötzlich Leben in die Frau; es war, als hätte sie sich gerade eine beträchtliche Dosis Speed die Nase hochgezogen. Innerhalb von Sekunden hatte sie die Kette entfernt, die Tür aufgerissen und sich ganz dicht vor Paul gestellt. Er konnte ihren schlechten Atem riechen, der so faulig stank, als habe sie bereits drei Wochen in einem Grab gelegen. Wegen seines Alkoholpegels, der um diese Zeit bereits im roten Bereich lag, dachte Paul zunächst an eine Sinnestäuschung, als er im Mundwinkel der alten Wedkind Federn erblickte. Es blieb ihm jedoch keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn die Hand der Alten schoss nach vorne, griff nach dem Glas und entriss es ihm.
An das, was danach folgte, erinnerte er sich später nur noch bruchstückhaft: Die Alte schraubte den Deckel auf, packte den Wellensittich, der infernalisch zu kreischen anfing, und drückte ihre Hand so fest zu, dass die Knochen des Vogels laut knackend zerbrachen. Dann nahm sie mit der anderen Hand das Köpfchen und riss es mit einem heftigen Ruck vom Rumpf. Der Schnabel ging noch ein letztes Mal auf und zu, bevor das Lebenslicht des kleinen Tieres endgültig erlosch und die alte Wedkind es sich hastig in den Mund stopfte.
Paul stand einfach nur da. Er war regungslos wie eine Schaufensterpuppe und betrachtete das Grauen vor seinen Augen. Eine in diesem Zusammenhang völlig abstruse Erinnerung kam ihm in diesem Moment in den Sinn: Er musste an eine Marketing-Vorlesung in der Uni denken, in der es um Kommunikationsprozesse gegangen war. Die Alte war der Kommunikator, er der Rezipient. Aber was wollte sie ihm mit der »Ich reiß dem Vogel den Kopf ab«-Nummer mitteilen? Es ergab absolut keinen Sinn.
Die alte Wedkind ließ das Glas fallen. Es zerbarst auf dem Boden in tausend Stücke und riss Paul aus seinen Gedanken. Ihn interessierte nicht mehr, was nun passieren würde – ob die Alte Handfeger und Kehrblech holte und die Scherben aufkehrte oder ob sie sich von ihrem Balkon in die Tiefe stürzte, nachdem ihr in einem lichten Moment ihre grausame Handlung bewusst geworden war. Er rannte einfach los, die Treppe hinunter und in seine Wohnung hinein. Als er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, überkam ihn plötzlich ein Heulkrampf, und er fing an, wie ein kleines Kind zu schluchzen, bis ihm alles wehtat. Dann begann er, seine Gefühle und Gedanken auf bewährte Weise im Alkohol zu ertränken. Er soff bis tief in die Nacht und hatte Glück, dass er am nächsten Tag spätnachmittags wieder aufwachte, statt an einer Alkoholvergiftung zu sterben.
7
BERLIN-MITTE, PLATTENBAUSIEDLUNG,
22./23. NOVEMBER
Das Kreischen eines Vogels auf dem Gang hatte Naomi aus ihrem Mittagsschlaf aufgeschreckt. Anschließend hatte sie noch gehört, wie die Tür der Nachbarwohnung zugeschlagen wurde, und etwas später im Hausflur ein paar verstreute Federn auf dem Boden gefunden. Es war kein sechster Sinn nötig, um zu spüren, dass etwas höchst Merkwürdiges passiert sein musste. Sie hatte beschlossen herauszufinden, was im Gang geschehen war: Ihr Büchlein sollte schließlich keine Lücken aufweisen.
Auch am darauffolgenden Tag fiel ihr auf, dass weder Frau Wedkind noch Paul Cancic ihre Wohnungen verließen. Cancic tauchte nicht am Briefkasten auf, um seine Angebetete zu treffen, und die alte Wedkind unternahm wieder nicht ihre üblichen Besorgungstouren in der Stadt.
Natürlich hätte sich Naomi für eine aktive Form der Recherche entscheiden können. Es wäre beispielsweise möglich gewesen, bei Cancic und Wedkind zu klingeln und unter einem Vorwand nach Informationen zu suchen, doch ein solches Vorgehen passte ihr nicht ins Konzept. Sie wollte, dass das Schicksal – oder, wenn man nicht daran glaubte, eben der reine Zufall – ohne ihr
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