Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
nimmt den Fahrstuhl in den zweiundzwanzigsten Stock und schließt wenige Minuten später die Tür zu ihrer Wohnung direkt nebenan auf.
Naomi hatte schon des Öfteren beobachtet, dass Johanna Wedkinds Tagesablauf ab und an ein wenig aus den Fugen geriet. So kam es vor, dass sie sich eine halbe oder sogar eine ganze Stunde verspätete. Der Grund dafür war nicht Tatterigkeit aufgrund ihres hohen Alters – mit ihren dreiundachtzig Jahren war sie noch äußerst rüstig. Auch lag der Verspätung kein Schlendrian zugrunde, denn dafür war sie viel zu diszipliniert; und im Allgemeinen konnte man die Uhr nach ihr stellen. Nein, meist waren äußere Umstände an den kleinen und großen Unregelmäßigkeiten schuld: etwa eine Verkäuferin, die sich vertippte und eine langwierige Stornobuchung durchführte, oder eine liegen gebliebene U-Bahn. Und einmal war ihr die Handtasche gestohlen worden, und sie hatte eine halbe Ewigkeit in einer Polizeidienststelle wegen des Protokolls verbringen müssen. In den Tagen nach solchen Vorfällen beklagte sich die alte Frau oft bei Naomis Mutter.
Wie die meisten Menschen funktionierte Johanna Wedkind wie ein Uhrwerk. Das traf auch auf alle anderen Nachbarn zu, über die Naomi bis ins kleinste Detail Buch führte – gleichsam als Ersatz für die Gespräche mit anderen, die sie seit dem Verlust des Vaters nicht mehr führen mochte.
Spannend wurde es immer dann, wenn das Leben die Richtung wechselte und die Routine durch etwas Einschneidendes unterbrochen wurde. Dann hörten die Menschen – wenn auch meist nur für kurze Zeit – auf, stoisch in ihrem Hamsterrad weiterzulaufen. Doch in jüngster Zeit war immer wieder so etwas zu beobachten gewesen, und Naomi notierte solche Veränderungen akribisch und unterstrich sie immer fett mit einem roten Marker.
Sie musste an ihren arbeitslosen Nachbarn Paul Cancic denken, der einen Stock unter ihr wohnte und sich vor Kurzem in die neue Briefträgerin verliebt hatte. Statt wie früher den ganzen Tag dumm vor der Glotze abzuhängen und sich ein Bier nach dem anderen reinzukippen, trank er vormittags offensichtlich längst nicht mehr so viel wie sonst, um der jungen Frau in einer halbwegs passablen Verfassung begegnen zu können: Wenn sie gegen Mittag das Gebäude betrat, tauchte er zumeist »zufälligerweise« an seinem Briefkasten auf und sprach ein paar Worte mit ihr.
Naomi blätterte in ihrem Buch und begann, einige ihrer Vermerke aus der vergangenen Woche noch einmal zu lesen.
Notiz: 12 Uhr. Heute sind es nur drei leere Flaschen, die er in die Kiste auf dem Balkon zurückstellt.
Er hatte obendrein den Kauf von alkoholischem Nachschub auf den Nachmittag verlegt, wenn die Briefträgerin längst weg war.
Notiz: 16 Uhr. Er stellt zwei volle Kisten zum Kühlen auf den Balkon.
Außerdem zerriss er die Briefe von der Arbeitsagentur nicht mehr sofort, ohne sie gelesen zu haben, sondern studierte sie. Er bewarb sich sogar – zumindest für eine Weile – auf vorgeschlagene Stellenangebote.
Notiz: Jeden Tag finden sich jetzt geöffnete, leere Briefkuverts (Absender: Agentur für Arbeit) und zusammengeknüllte Bewerbungsanschreiben (fehlerhaft) in der Mülltonne.
Auf diese Weise vermied er wiederholte Aufforderungen von der Arbeitsagentur. Die Post vom Arbeitsamt verringerte sich somit beachtlich, was – so glaubte er wohl – ihn in den Augen seiner Angebeteten besser dastehen ließ.
Notiz: Montag, 12.50: Habe ihn und die Postbotin belauscht. Postbotin: »Da scheint sich ja was zu tun mit Ihrer Stellenbewerbung. Ich habe heute keinen Brief von der Agentur für Sie.«
Cancic war nicht der Einzige, in dessen Leben sich etwas veränderte. Naomis Buch war voll von roten Unterstreichungen. Bei allen, die in ihrem Lederbüchlein mit den abgewetzten Ecken Erwähnung fanden, gab es Brüche. Allerdings nicht immer zum Positiven. Sigmund Witter, der im selben Stock wie sie wohnte und jetzt im Ruhestand war, bekam wohl vor einigen Monaten eine Krebsdiagnose …
Notiz: Er war heute auf der Krebsstation im Virchow-Klinikum, wo Mama putzt … Weiß nicht, was für einen Krebs er hat … aber er sieht schlecht aus.
… und Jimmy K. aus dem dreiundzwanzigsten Stock ein Jahr auf Bewährung wegen Drogengeschäfte.
Notiz: … habe gesehen, wie er den Beutel mit dem Koks vom Balkon hinuntergeworfen hat, bevor die Polizei seine Wohnung stürmte.
Naomi drehte das Objektiv des Fernrohrs zur Seite.
Frau Wedkind war noch immer nicht aufgetaucht, und wenn ihr
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