Pandemonium
dass meine Mutter hier sein könnte, dass sie ja irgendwo in der Wildnis sein muss, in einem der Stützpunkte oder Camps oder wie auch immer sie heißen, ist mir bisher gar nicht gekommen. Dann bewegt sich die Frau ein wenig, ich sehe ihr Gesicht und mir wird klar: Nein, sie ist es natürlich nicht. Sie ist viel zu jung, wahrscheinlich so alt, wie meine Mutter war, als ich sie vor zwölf Jahren das letzte Mal gesehen habe. Ich weiß gar nicht, ob ich meine Mutter erkennen würde, wenn ich sie wiedersähe. Meine Erinnerungen an sie sind so vage und von Schichten aus Zeit und Träumen überlagert.
»Schlabber«, sagt Sarah, als ich es bis zum Herd geschafft habe. Der Weg durch den Raum hat mich völlig erschöpft. Unglaublich, dass dies derselbe Körper ist, der an einem Tag zehn Kilometer joggen konnte und nach Munjoy Hill rauf- und runtergerannt ist, als wäre es ein Klacks.
»Was?«
»Schlabber.« Sie hebt den Deckel des Kochtopfs. »So nennen wir es. Das essen wir, wenn die Vorräte knapp werden. Weizenmehl, Reis, manchmal etwas Brot – was wir so für Getreide übrig haben. Dann wird es gekocht bis zum Gehtnichtmehr und fertig ist der Scheiß. Schlabber.«
Ich erschrecke, als ich den Kraftausdruck höre.
Sarah nimmt einen Plastikteller – einen Kinderteller, auf dem noch ausgeblichene Tiersilhouetten zu erkennen sind – und häuft eine große Portion Schlabber darauf. Die Leute hinter mir an den Tischen haben ihre Gespräche wiederaufgenommen. Das Zimmer ist vom leisen Gemurmel der Unterhaltungen angefüllt und mir wird etwas wohler; wenigstens ist jetzt nicht mehr alle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet.
»Die gute Nachricht ist«, fährt Sarah fröhlich fort, »dass Roach gestern ein Geschenk mit nach Hause gebracht hat.«
»Wie bitte?« Ich gebe mir Mühe, das Kauderwelsch aufzunehmen, ihre Sprache zu verstehen. »Hat er Vorräte aufgetan?«
»Noch besser.« Sie grinst mich an und schiebt den Pfannendeckel beiseite. Darin liegt goldbraunes Fleisch, angebraten, knusprig: Der Geruch treibt mir die Tränen in die Augen. »Kaninchen.«
Ich habe bisher noch nie Kaninchen gegessen, habe es noch nicht mal als etwas wahrgenommen, das man essen kann – geschweige denn zum Frühstück –, aber ich nehme den Teller dankbar entgegen und kann mich kaum zurückhalten, an Ort und Stelle im Stehen meine Zähne ins Fleisch zu versenken. Ehrlich gesagt würde ich sowieso lieber hier stehen bleiben. Alles ist besser, als mich zu all diesen Fremden setzen zu müssen.
Sarah spürt offenbar meine Nervosität. »Komm«, sagt sie, »du kannst dich neben mich setzen.« Sie fasst mich am Ellbogen und führt mich zum Tisch. Das überrascht mich ebenfalls. In Portland und den anderen Gemeinden innerhalb der Grenzen sind alle sehr zurückhaltend mit Berührungen. Selbst Hana und ich haben uns fast nie umarmt oder untergehakt, dabei war sie meine beste Freundin.
Ich werde von einem Krampf geschüttelt und mein Oberkörper klappt nach vorne, woraufhin ich beinahe meinen Teller fallen lasse.
»Langsam.« Mir gegenüber sitzt der blonde Junge – der, der vorhin so aussah, als könnte er sich kaum das Lachen verkneifen. Er hebt die Augenbrauen; sie sind genauso hellblond wie seine Haare, beinahe unsichtbar. Mir fällt auf, dass er genau wie Raven eine Eingriffsnarbe hinter seinem linken Ohr hat, und genau wie ihre muss auch seine eine Fälschung sein. Nur Ungeheilte leben in der Wildnis; nur Menschen, die aus den umzäunten Gebieten fliehen wollten oder mussten. »Geht’s?«
Ich antworte nicht, ich kann nicht. Ein ganzes Leben voller Ängste und Warnungen durchzuckt mich und in meinem Kopf blitzen schnell hintereinander Wörter auf: illegal, falsch, Sympathisant, Krankheit. Ich atme tief durch und versuche, das ungute Gefühl zu ignorieren. Dies sind Wörter aus Portland, alte Wörter; sie sind wie mein altes Ich hinter dem Zaun zurückgeblieben.
»Ihr geht’s gut«, springt Sarah ein. »Sie hat bloß Hunger.«
»Mir geht’s gut«, spreche ich ungefähr fünfzehn Sekunden zu spät nach. Der Junge grinst erneut.
Sarah rutscht auf die Bank und klopft auf den leeren Platz neben sich, den Squirrel gerade erst frei gemacht hat. Wenigstens sitzen wir ganz am Ende des Tisches und ich muss mir keine Sorgen machen, zwischen zwei Leuten eingequetscht zu werden. Ich setze mich, den Blick auf den Teller gerichtet. Ich kann spüren, wie mich erneut alle beobachten. Wenigstens gehen die Gespräche weiter, eine tröstliche Decke
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