Pandemonium
Moment die Augen und lasse das Bild hinwegflattern.
»Sie ist nicht mehr hier. Hat den Stützpunkt im Frühsommer verlassen und sich dem W. angeschlossen. Sie kommt mich holen, sobald ich alt genug bin, um mitzuhelfen.« Ihre Stimme hat einen stolzen Unterton angenommen, daher nicke ich ermutigend, obwohl ich keine Ahnung habe, was »W« bedeutet.
Weitere Namen: Hunter, Jäger, der blonde Junge, der mir gegenüber am Tisch saß (»So hieß er früher schon«, sagt Sarah, wobei sie das Wort früher fast leise ausspricht wie ein Schimpfwort, »er kann überhaupt nicht jagen«); Tack, der vor ein paar Jahren aus dem Norden gekommen ist.
»Alle sagen, er ist mies drauf«, erklärt sie und erneut höre ich Ravens Stimme in ihren Worten. Sie spielt mit dem Stoff ihres T-Shirts herum, das so fadenscheinig ist, dass es beinahe durchsichtig wirkt. »Aber ich finde das nicht. Zu mir ist er immer nett.«
Tack muss der schwarzhaarige Typ sein, der mich so finster angesehen hat, als ich in die Küche kam. Wenn das sein normaler Blick ist, kann ich nachvollziehen, warum die anderen sagen, er sei mies drauf.
»Warum heißt er Tack?«, frage ich.
Sie kichert. »So spitz wie ein Reißnagel«, sagt sie. »Den Namen hat Grandpa ihm gegeben.«
Ich beschließe mich von Tack fernzuhalten, falls ich überhaupt hier im Stützpunkt bleiben sollte. Ich habe vermutlich keine andere Wahl, aber ich habe auch das Gefühl, nicht hierherzugehören, und ein Teil von mir wünscht sich, dass Raven mich dort zurückgelassen hätte, wo sie mich gefunden hat. Dort war ich Alex näher. Er war gleich auf der anderen Seite dieses langen schwarzen Tunnels. Ich hätte die Dunkelheit durchschreiten können; ich hätte ihm wiederbegegnen können.
»Das Wasser ist fertig«, verkündet Sarah schließlich.
Ein mühsamer Prozess, unerträglich langsam: Wir füllen eins der Spülbecken mit dem heißen Wasser, und Sarah misst langsam Spülmittel hinzu, ohne einen Tropfen zu verschwenden. Das ist noch etwas, das mir in der Wildnis auffällt: Alles wird genutzt, wiederverwertet, rationiert, abgemessen.
»Und was ist mit Raven?«, frage ich, als ich meine Arme in das heiße Wasser tauche.
»Was soll mit ihr sein?« Sarah strahlt. Ich kann sehen, wie gern sie Raven hat.
»Was ist ihre Geschichte? Wo kommt sie her, wo hat sie früher gelebt?« Ich weiß nicht, warum ich das Thema erneut aufbringe. Wahrscheinlich bin ich einfach neugierig, neugierig zu erfahren, wie man zu so jemandem wird: selbstbewusst, stark, ein Anführertyp.
Sarahs Gesicht verdüstert sich. »Es gibt kein Früher«, sagt sie kurz angebunden, dann schweigt sie zum ersten Mal seit einer Stunde. Wortlos spülen wir das Geschirr.
Als wir mit dem Abwasch fertig sind und es darum geht, mich mit Kleidung auszustatten, wird Sarah wieder gesprächig.
Sie führt mich zu einem kleinen Zimmer, das ich vorhin fälschlicherweise für ein Schlafzimmer gehalten habe. Überall sind massenhaft Kleider verstreut, auf dem ganzen Fußboden und in allen Regalen. »Dies ist das Lager«, sagt sie und kichert ein bisschen, als sie eine ausholende Geste macht.
»Wo kommen denn die ganzen Kleider her?« Ich gehe vorsichtig in den Raum und trete dabei auf T-Shirts und zusammengerollte Socken. Jeder Zentimeter des Fußbodens ist mit Stoff bedeckt.
»Wir finden sie«, sagt Sarah unbestimmt. Und dann, mit plötzlicher Heftigkeit: »Die Offensive war nicht so wie behauptet, weißt du. Die Zombies haben gelogen, so wie immer.«
»Die Zombies?«
Sarah grinst. »So nennen wir die Geheilten. Raven sagt, sie könnten genauso gut Zombies sein. Sie sagt, das Heilmittel verdummt die Leute.«
»Das stimmt nicht«, erwidere ich automatisch und verbessere sie beinahe: Es ist die Leidenschaft, die die Leute verdummt und zu Tieren macht. Sich von der Liebe zu befreien bedeutet, Gott nahe zu sein. Das ist ein altes Sprichwort aus dem Buch Psst . Das Heilmittel soll uns von extremen Emotionen befreien, uns zu klaren Gedanken und Gefühlen verhelfen.
Aber als ich an Tante Carols glasige Augen und das ausdruckslose Gesicht meiner Schwester denke, finde ich den Begriff Zombie eigentlich ziemlich passend. Und es stimmt, dass all die Geschichtsbücher und all unsere Lehrer uns belogen haben, was die Offensive betrifft. Es hieß, die Wildnis sei während des Bombenangriffs vollständig gesäubert worden. Invaliden – oder Siedler – gibt es offiziell gar nicht.
Sarah zuckt die Achseln. »Wer schlau ist, kümmert sich um andere.
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