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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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sie, um Blue, um alle hier. All diese Knochen und Magerkeit.
    »Hier drüben bewahren wir das Wasser auf. Wir holen es immer morgens – ich nicht, ich bin noch zu klein. Die Jungen und manchmal Raven.« Sie steht jetzt in der Ecke neben den Eimern, die gefüllt sind. Ächzend hebt sie einen davon mit beiden Händen am Henkel hoch. Er ist riesig, fast so groß wie ihr Oberkörper. »Mit noch einem dazu sollten wir auskommen«, sagt sie. »Ich denke, ein kleiner reicht.« Sie tappt angestrengt aus dem Zimmer, den Eimer vor sich herschleppend.
    Ich stelle zu meiner Beschämung fest, dass ich selbst einen der kleinsten Eimer kaum hochkriege. Sein Metallgriff schneidet mir schmerzhaft in die Handflächen – die aus meiner Zeit allein in der Wildnis immer noch mit Schorf und Blasen überzogen sind –, und bevor ich noch den Flur erreicht habe, muss ich den Eimer absetzen und mich an die Wand lehnen.
    »Alles klar?«, ruft Sarah mir zu.
    »Ja, kein Problem!«, antworte ich etwas zu schneidend. Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass sie mir zu Hilfe eilt. Ich hebe den Eimer erneut hoch, mache ein paar unsichere Schritte nach vorn, stelle ihn ab, ruhe mich aus. Hochheben, schlurfen, absetzen, ausruhen. Hochheben, schlurfen, absetzen, ausruhen. Als ich in der Küche ankomme, bin ich außer Atem und verschwitzt; Salz brennt mir in den Augen. Glücklicherweise bemerkt Sarah es nicht. Sie hockt vor dem Herd und schürt das Feuer mit dem verkohlten Ende eines Holzstocks.
    »Wir kochen das Wasser morgens ab«, sagt sie. »Das ist nötig, sonst haben wir den ganzen Tag über die Scheißerei.« Aus ihren letzten Worten höre ich Raven sprechen; das muss eine ihrer Maximen sein.
    »Wo kommt das Wasser her?«, frage ich, dankbar, dass sie mir den Rücken zukehrt und ich mich einen Moment auf einer der Bänke ausruhen kann.
    »Aus dem Cocheco River«, sagt sie. »Der ist nicht allzu weit weg. Zwei Kilometer, zweieinhalb höchstens.«
    Unmöglich. Ich kann mir nicht vorstellen, diese vollen Eimer zwei Kilometer weit zu tragen.
    »Über den Fluss kriegen wir auch unsere Vorräte«, plappert Sarah weiter. »Freunde von drinnen lassen sie zu uns treiben. Der Cocheco River fließt nach Rochester rein und dann wieder raus.« Sie kichert. »Raven sagt, dass er eines Tages bestimmt ein Formular über den Zweck seiner Reise ausfüllen muss.«
    Sarah legt Holz von einem Stapel in der Ecke ins Feuer. Dann steht sie auf und nickt. »Wir heizen das Wasser nur ein bisschen auf. Dann spült es sich besser damit.«
    Auf einem der Regalbretter über der Spüle steht ein riesiger Suppentopf aus Blech, groß genug, dass ein Kind bequem darin baden könnte. Bevor ich meine Hilfe anbieten kann, klettert Sarah auf die Spüle – wo sie vorsichtig auf dem Rand balanciert wie eine Turnerin –, richtet sich auf und holt den Topf vom Regal. Dann springt sie von der Spüle und landet lautlos auf dem Boden. »Also dann.« Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht; eine Strähne hat sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst. »Jetzt kommt das Wasser in den Topf und der Topf auf den Herd.«
    Alles in der Wildnis ist ein mühsamer Prozess, kleine Schritte, die langsam vorwärtsschlurfen. Alles braucht Zeit. Während wir darauf warten, dass das Wasser im Topf heiß wird, zählt Sarah die Namen aller Leute im Stützpunkt auf. Ich kann sie mir bestimmt nicht alle merken: Grandpa, der Älteste; Lu, kurz für Lucky, die Glückliche, die auf Grund einer üblen Entzündung einen Finger verloren hat, aber ansonsten unversehrt am Leben geblieben ist; Bram, kurz für Bramble, Brombeere, der eines Tages auf wundersame Weise in der Wildnis aufgetaucht ist, inmitten eines Gewirrs aus Brombeergestrüpp und Dornen, als wäre er dort von Wölfen abgelegt worden. Fast jeder Name hat eine Geschichte, selbst Sarahs. Als sie vor sieben Jahren mit ihrer großen Schwester in die Wildnis kam, flehte sie die Siedler an, ihr einen neuen, coolen Namen zu geben. Bei der Erinnerung daran verzieht sie das Gesicht – sie wollte irgendwas Hartes wie Blade, Klinge, oder Iron, Eisen –, aber Raven lachte nur, legte ihr eine Hand auf den Kopf und sagte: »Du siehst für mich genau aus wie Sarah.« Und so war sie Sarah geblieben.
    »Wer ist deine Schwester?«, frage ich. Ich denke kurz an meine eigene Schwester, Rachel – nicht die Rachel, die ich zurückgelassen habe, die geheilte, die ausdruckslose und distanzierte, sondern die Rachel aus meiner Kindheit. Dann schließe ich einen

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