Panic
die rechte. Im Haar trug ich die Rabenfeder.
»Was soll das werden, zum Teufel?«, fragte er.
»Ich geh jagen«, sagte ich und schob ihn beiseite. Das Licht im Hauptraum war gedämpft, das Feuer im Kamin heruntergebrannt. Theresa schlief unter einer rot-schwarz gemusterten Wolldecke auf einer Couch. Auf dem Boden neben ihr lag eine Schrotflinte. Lenore hatte es sich gegenüber in einem Sessel bequem gemacht. Nelson ging, Gewehr gefällt, vor dem zertrümmerten Buntglasfenster auf und ab. Kurant behielt ein Stockwerk tiefer den breiten Lichthof im Auge, der vor dem Blockhaus die Dunkelheit bannte. Arnie kümmerte sich um Earl, dessen Zustand sich offensichtlich verschlechtert hatte, denn er wand sich ächzend auf seinem Bett. Von Griff keine Spur.
»Was soll das heißen?«, fuhr Phil mich an. »Wir haben abgestimmt. Keiner von uns verlässt diesen Raum, bis das Flugzeug kommt. Wachschichten rund um die Uhr. Entweder wir schaffen es alle oder keiner von uns.«
»Und wenn das Flugzeug nicht durchkommt?«, fragte ich. »Das Eis um den Anlegesteg ist viel zu uneben. Der Pilot muss abwarten, bis eine glatte Stelle zufriert, oder man holt uns über den Landweg, was Tage dauern könnte. Sie können auf Ihre Weise sterben, Phil. Ich mach’s auf meine.«
Damit ging ich an Theresa und Lenore vorbei ins Speisezimmer, wo ich mir einen Stuhl zurechtrückte. Ich stand noch darauf, als Griff mit einer Kanne Kaffee und einer Platte Sandwiches aus der Küche kam. Er sah zuerst Phil an, dann mich, die ich Metcalfes Bogen und Köcher in den Händen hatte.
»Diana, Sie haben doch nicht etwa vor …«
Doch ich war schon wieder vom Stuhl gestiegen und auf dem Weg in den Hauptraum. »Wer diesen Mann aufhalten will, muss ihn allein jagen«, sagte ich im Gehen.
Griff stellte Kanne und Teller auf den Tisch und eilte mir hinterher.
Er erwischte mich, als ich schon in der Tür war.
»Das können Sie nicht tun«, sagte er.
»Ich muss«, erwiderte ich traurig.
»Nennen Sie mir nur
einen
guten Grund.«
Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, ihm meine ganze Geschichte zu erzählen. Da ich aber befürchtete, dass er sie nicht verstehen würde, nannte ich ihm eine Begründung, die auch ihm einleuchten musste: »Man hat mir als Kind beigebracht, ein verwundetes Tier niemals im Wald zurückzulassen.«
Thanksgiving
In den Legenden meiner Kindheit begegnet der Schamane der Großen Kraft stets erst dann, wenn er sich im Dickicht des Waldes verirrt hat. Besonders eine Geschichte begleitete mich, als ich mich in östlicher Richtung auf den Weg machte, der Morgendämmerung entgegen. Sie handelt von einem kleinen Jungen, der vor seinem grausamen großen Bruder davonlaufen will. Er lässt sein bisheriges Leben hinter sich, indem er einen Pfeil in den Wald schießt und ihm so schnell er kann hinterherrennt, damit er ihn einholt, bevor er zu Boden fällt. Seine Gedanken fliegen mit jedem Pfeil weiter, bleiben nicht in der vertrauten Umgebung seiner Familie. Bald steht er orientierungslos in einer fremden Welt und muss sich ganz auf seine Sinne verlassen, um zu überleben.
Ich blieb eine Weile auf dem Waldweg, der in den östlichen Teil des Jagdgebiets führte, wo Ryan sich augenscheinlich am wohlsten fühlte. Ich zog einen der sechs Zedernholzpfeile aus dem Köcher, drehte mich mehrmals im Kreis, entließ den Pfeil in die reglose Stille der Nacht und rannte ihm hinterher.
Der Schnee unter dem Neuschnee, gestern noch nass, war mittlerweile gefroren und bildete einen festen, ebenen Untergrund unter meinen Füßen. Ich hatte keine Angst, über einen unsichtbaren Stamm oder Stumpf oder Stein zu stolpern; sie waren unter dem Schnee begraben.
Das Gestöber ließ nach und hörte schließlich auf. Über mir rissen die Wolken auf, und die Dunkelheit ringsum wich dem Licht des abnehmenden Mondes.
In Ryans Hirn, sagte ich mir, während ich meinem Pfeil hinterherrannte, herrschte ein ähnliches Chaos wie im Dickicht des Waldes. Um ihn zu töten, musste ich werden wie er. Ryan hielt sich für einen
Mara’akame
. Um den Zusammenstoß mit ihm zu überleben, müsste ich trotz meiner Erziehung und Bildung in der sichtbaren Welt ein
Puoin
werden, die Reihe der Micmac-Schamanen fortsetzen, die von meinem Vater über meinen Großonkel und dessen Mutter bis hin zu den Vorfahren reichte, die einmal durch die Wälder Neuschottlands gestreift waren.
Ich rannte, bis mir die Erkenntnis, dass ich mich verirrt hatte, einen Stich versetzte. Ich wurde
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