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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Altar meines Schreins geworden war.
    Ich drehte die Gaslampen herunter, wickelte mich in eine der Hirschhäute und setzte mich im Schneidersitz vor den Schrein. Das Feuer wärmte mir den Rücken. Ich konzentrierte mich, rief mir jede Einzelheit der letzten Jagdlektion in Erinnerung, die mein Vater mir erteilt hatte, bevor er mir seinen Entschluss verkündet hatte, Katherine aus dem Leben zu helfen.
    Ich war sechzehneinhalb in diesem Herbst und eine erfahrene Jägerin, hatte bereits sieben große Weißwedelhirsche aufgespürt und erlegt. Es war Anfang November, neun Uhr früh. Über Nacht war ein Sturm über Katahdin hinweggefegt und hatte die ersten acht Zentimeter Schnee gebracht. Wir hatten den Wald seit Sonnenaufgang kreuz und quer durchlaufen, aber keine Spuren gefunden.
    »Der erste Schneesturm macht die Tiere nervös; sie wollen sich nicht bewegen, um uns nicht zu verraten, wo sie gewesen sind«, sagte mein Vater.
    »Gehen wir zurück und warten bis zum Nachmittag?«
    »Nein«, sagte er lächelnd. »Du wirst lernen, sie mit dem Herzen aufzuspüren.«
    Ich runzelte die Stirn.
    Er sagte: »Es gibt Energien im Wald, die du inzwischen schon erspüren kannst, wenn du dich konzentrierst, Energien, die die Anwesenheit eines Tiers verraten. Ich werde dir jetzt eine neue Möglichkeit zeigen, diese Energien zu wittern.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Denk daran, was ich dir beigebracht habe. Denk an die Art und Weise, wie ein geknicktes Farnblatt uns anzeigt, in welcher Richtung ein Hirsch vorbeigezogen ist.«
    Ich nickte.
    »Ich habe dir beigebracht, die Ohren zu spitzen, damit du hörst, wie sich die Laute der kleinen Tiere verändern, wenn sich ein großes Tier nähert.«
    Wieder nickte ich.
    »All diese Übungen sollten dich nur darauf vorbereiten, mit dem Herzen zu sehen«, fuhr er fort. »Denn nur mit dem Herzen spürst du die Große Kraft; sie ist unsichtbar, aber es gibt sie trotzdem, sie verbirgt sich überall um uns, in den Bäumen, den Felsen, den Flüssen, dem Himmel und dem Wind.«
    Um mit dem Herzen zu jagen, galt es die Kontrolle über das Herz aufzugeben, bis es die Schwingungen aufnahm, die ringsum pulsierten. Damit wurde man nicht nur eins mit dem Wild, sondern bekam auch eine erste Vorstellung vom Wirken der Großen Kraft.
    Ich war nicht sehr erfolgreich gewesen in diesem Herbst. Zweimal hatte ich zwar Herzflattern bekommen, bevor ein Hirsch aufgetaucht war, doch mein Fenster in die andere Welt war und blieb beschlagen.
    Ich wusste, mein Leben hing davon ab, ob es mir diesmal gelingen würde. Ich versuchte also, meine Atmung zu verlangsamen, so wie mein Vater es mir gezeigt hatte. Nach einer Weile wurde sie gleichmäßig, und ich spürte meinen Herzschlag. Doch sosehr ich mich auch bemühte, mein Herz vermochte nichts anderes zu spüren als meinen Kummer.
    »Ich kann das nicht!«, schrie ich dem Hirschkopf an der Wand zu. »Ich bin nicht stark genug. Vielleicht sollte ich mich einfach meinem Schicksal ergeben und sterben.«
    Der Hirsch starrte zurück. Also versuchte ich es wieder. Ich wurde ruhig, konzentriert, und bald spürte ich, wie mein Herz das Blut rasch in die Schläfen pumpte.
    Ich schloss die Augen und versuchte, mich so zu sehen, wie mein Vater und Mitchell mir die Älteste der Alten in unseren Legenden beschrieben hatten: als eine Frau, in Blätter und Moos gehüllt, die in einem Loch unter einem Baum lebte, wo die Toten begraben sind. In meiner Vorstellung wurde daraus tiefste Dunkelheit und Stille, und ich konzentrierte mich auf meinen Atem, drosselte seine Geschwindigkeit, sog mit jedem Mal mehr Luft in die Lunge, bis mein Hirn anfing zu glühen. Endlich spürte ich, wie mein aufgewühltes Herz sich beruhigte und sanfte, forschende Wellen aussandte, die von der Decke und den Wänden abprallten und zu mir zurückkamen, bis ich in der Lage war, mit geschlossenen Augen zu sehen.
     
    Es war spät, als ich an die Tür des Blockhauses klopfte.
    »Wer ist da?«, hörte ich Phil.
    »Little Crow.«
    Ich muss ziemlich seltsam ausgesehen haben, denn als die Tür aufging, blickte Phil verlegen zur Seite, so wie ich früher, wenn ich einem der Penner begegnet war, die um den Copley Square herum auf der Straße lebten. Um meine Gesichtszüge zu verwischen, hatte ich mir mit Ofenruß schwarze Streifen auf die Haut gemalt. Dazu trug ich Griffs weißen Tarnanzug. Auf das Wollhemd darunter hatte ich ein Stück Hirschhaut geheftet, dazu das Foto meiner Kinder auf die linke Brust, das von Lizzy Ryan auf

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