Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
Vom Netzwerk:
Mom«, sagte ich endlich zu ihr. »Heute ist Chemie dran. Die letzte Prüfung vor dem Abschluss.«
    Sie antwortete nicht, beobachtete stattdessen einen großen blauen Reiher, der am anderen Ufer des Teichs im seichten Wasser gelandet war. Also nahm ich ihr das Tablett vom Schoß und machte Anstalten zu gehen. Ich stand schon in der Tür, als sie mich rief: »Little Crow?«
    Ich drehte mich zu ihr um, und Katherine streckte die Hand nach mir aus. Ich stellte das Tablett ab und ging zu ihr. Sie schloss mich in die Arme und legte mein Gesicht an ihren Hals. Sie duftete nach wilden Hyazinthen, und ich fühlte mich so warm und geborgen wie früher als Sechsjährige. Sie küsste mich auf die Stirn, als ich mich von ihr löste.
    »Wir sehen uns am Nachmittag«, sagte ich und ging, ohne mich noch einmal umzusehen, in Gedanken schon bei der bevorstehenden Prüfung.
    Ich stellte mir vor, dass mein Vater auf genau so einen Tag gewartet hatte. In den Weiden sangen die Amseln, Ochsenfrösche quakten im Schilf, und die berauschende Würze des Schneeballs wich dem zarten Duft des Flieders: die ideale Kulisse für sein Vorhaben. Sie entsprach seiner Sicht von der Welt, einer Welt, die von einer unsichtbaren, geheimnisvollen Kraft durchdrungen war, einer Welt, in der die Natur herrschte; mit ihr im Einklang zu leben, galt als das höchste Ideal.
    Ich sah ihn förmlich vor mir, berauscht von der Gewissheit, dass die Natur es genauso gewollt hätte. Die Natur sortierte das Schwache als minderwertig aus. Ihre Macht kannte keine Unterscheidung, sie war so willkürlich und grausam wie schön. Meine Mutter sollte in Schönheit sterben, ehe sie zur leeren Hülse wurde, zum lächerlichen Abklatsch ihrer selbst.
    Er führt sie den Hügel hinunter, wobei er sich sagt, dass er das Richtige tut.
Sie hat alles vergessen
, sagt er sich.
Ihren letzten klaren Augenblick soll sie im Wasser fassen, bevor ihr Verstand für immer dunkel wird
.
    Katherine hat ihren Entschluss, in Würde zu sterben, längst vergessen. Sie glaubt, dass er sie zum Teich hinunter führt, damit sie ihre Wurftechnik üben kann.
    Mein Vater denkt jetzt nicht an sie. Er denkt auch nicht an den Eid, den er als Arzt abgelegt hat. Er denkt nur noch an Mitchell und an die Rituale und Legenden, die ihm halfen, das Leben zu erklären. Dabei führt er die Zeremonien, die sein Onkel ihn gelehrt hat, ins Extreme, indem er das ultimative Opfer bringt.
    Und weil sie nach wie vor weiß, dass sie meinen Vater liebt, lächelt Katherine und steigt mit ihm ins Wasser. Er sieht zu, wie sie die ersten Meter der glatten grünen Schnur durch die Rute zieht. Die Schnur liegt auf dem Wasser.
    Katherines Handgelenk und Schulter arbeiten mechanisch, als hätten ihre Muskeln ein Gedächtnis. Die Schnur malt anmutige Schleifen in die warme Mailuft. Da entdeckt sie den Kuss einer Forelle auf dem Wasser, wirft einmal, zweimal, dreimal vergeblich aus, bis die Trockenfliege endlich an der richtigen Stelle liegt. Einen Augenblick lang bleibt alles ruhig – die Forelle, die Fliege, das Wasser, meine Mutter, mein Vater –, dann schnappt die Forelle zu und die Fliege ist verschwunden. Katherine reißt die Arme hoch, um den Haken zu setzen, als mein Vater sich ihr von hinten nähert. Seine Bewegung bringt Unruhe ins Wasser, trübt die glatte Fläche, sodass ihr Bild mit dem seinen verschmilzt, während sein Gesicht in meiner Vorstellung die mörderischen Züge Ryans annimmt, wie er mich am Morgen über die Lichtung hinweg angestarrt hat.
     
    Über dem gefrorenen See heulte der Sturm, ein Blizzard, um mich herum wirbelnde Weiße. Sie krallte nach meiner Haut und biss mir in die Augen, bis ich Angst hatte zu erblinden. Da kam es von unten auf mich zu, aus den Tiefen unter dem schneebedeckten Eis, hüllte mich ein, quetschte mir Magen und Rippen, bis ich nach Luft schnappte. Ich hörte, wie sich das Heulen des Windes in gequältes Stöhnen verwandelte. Ich beugte mich nach vorn, wusste, dass der gottserbärmliche Lärm nicht aus dem Norden kam, sondern aus mir selbst. Ich brach unter dem Ansturm des Blizzards zusammen, hielt mir mit beiden Händen den Bauch, hätte mich am liebsten der Großen Kraft des Sturms überlassen, damit der Schnee mich für immer verwandelte. Kein Schmerz. Kein Leid. Keine quälenden Träume von der Vergangenheit mehr. Und wenn der Frühling käme, würde ich mich erneut verwandeln und in den Tiefen des Sees James Metcalfe Gesellschaft leisten.
    Ich zog den Mantel aus und legte ihn aufs

Weitere Kostenlose Bücher