Papa
Messer drang immer wieder in sein Fleisch, durchdrang seine Haut, öffnete ihn, damit das Leben aus ihm herausfließen konnte, und blieb dann stecken.
Jetzt konnte er sich auf das Sterben konzentrieren.
Der Wagen sank tiefer und tiefer. Die Welt verschwand in Dunkelheit, und eine neue Welt aus Schwärze breitete die Arme aus, um beide willkommen zu heißen.
Ein letzter Gedanke, der ebenso absurd wie treffend war, raste durch die letzten lebenden Zellen. Lillian hatte gesiegt und ihn wieder zu dem gemacht, der er war und der er immer hätte sein sollen.
Als er starb, öffneten sich seine Hände wie eine Blüte und gaben frei, was er so verzweifelt festgehalten hatte.
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Kapitel 45
D as Aufklatschen des Wagens auf der Oberfläche des Sees ließ Michelle aufblicken. Sie stand bis zum Bauchnabel im Wasser und konnte gerade noch die Umrisse des Fords erkennen, bevor er unterging.
Jetzt komm nicht auf die Idee und überlege, ob es
sein
Wagen war. Wie viele Autos fahren hier in der Gegend zu so später Stunde herum? Rette sie!
Michelle war eine gute Schwimmerin, doch ihre Muskeln waren unterkühlt, und bis zum Wagen musste sie gute zwanzig Meter zurücklegen.
Jeder Zug kam ihr schwerer vor als der vorherige. Sie schien der Unglücksstelle nicht näher zu kommen. Wie lange würde es dauern, bis das Auto vollgelaufen war? Wie lange, bis ein Mensch ertrank?
Ihre Arme brannten, ihre Beine fühlte sie nicht mehr, und als sie über dem Wagen im Wasser verharrte, wollte sie sterben. Nur der Gedanke an ihre Tochter, die unter ihr eingeschlossen war und ebenfalls ums Überleben kämpfte, ließ sie die restlichen Reserven mobilisieren.
Sie atmete tief ein und tauchte unter. Die Scheinwerfer des Autos flackerten und erstarben. Jetzt schien nur noch das Mondlicht zum Grund des Sees, wo es in Spuren auf der Metallicoberfläche schimmerte.
Michelle tauchte auf die offenstehende Fahrertür zu, fasste sie und zog sich nach unten. Am Steuer saß Sebastian Graf, mit Handschellen ans Lenkrad gefesselt. Er zuckte leicht.
Der Beifahrersitz war leer.
Michelle schwamm zur hinteren Seitenscheibe und versuchte ins Auto zu schauen, aber auch auf der Rückbank saß niemand.
Niemand war aufgetaucht, niemand trieb im Wasser.
Lilly war nicht hier!
Aber sie war doch eingestiegen, oder nicht?
Vielleicht hatte er sie unterwegs rausgelassen?
Ein kleiner Hoffnungsschimmer spülte etwas Wärme in die kühlen Muskeln. So viel, dass sie den Rückweg wagen konnte.
Ohne weiter auf Sebastian zu achten, tauchte sie prustend auf und schwamm ans Ufer, wo sie erschöpft liegen blieb.
Wo war Lilly?
Die Gedanken in ihrem Kopf waren ebenso kalt wie der See. Sie verwünschte die ganze Welt. Wäre sie in diesem Moment ein Gott gewesen, hätte sie, ohne zu zögern, die ganze Menschheit in kaltem Seewasser ertränkt.
Schritte im Kies. Erschrocken richtete sie sich auf.
»Michelle! Ist das nicht ein fürchterlicher Tag heute? Irgendwie will nichts funktionieren. Aber es trifft sich gut, dass Sie hier sind. Zu Ihnen wollte ich nämlich
auch
noch.«
Michelle erhob sich. Frierend, schwach und voller Hass.
Der Kies drückte sich schmerzhaft in ihre Fußsohlen. »Ich hätte Sie töten sollen«, hauchte sie und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
»Ja«, Ya-Long P’an hob entschuldigend die Hände. »Das hätte natürlich vieles vereinfacht, aber seien Sie mir nicht böse, wenn ich sage, dass ich Ihr Versagen als ausgesprochen angenehm empfinde.«
»Ist Lilly bei Ihnen?«, fragte Michelle unverhohlen, und der Gedanke, dass es so sein könnte, zerriss ihr das Herz. Ertrinken wäre besser gewesen.
Ya-Long weitete kaum merklich die Augen. »Warum sollte sie?«
»Sie ist nicht im Auto. Hat dieser Dreckskerl sie rausgelassen? Haben Sie sie geschnappt?«
»Hm«, machte die Chinesin und wandte sich ab. »Das wäre tatsächlich reizvoll gewesen. Quasi eine klassische Gewinnmaximierung, nicht wahr? Richtig eingesetzt, hätte Lilly eine Menge Geld gebracht. Aber nein. Sebastian hat auf seinem Weg zum Grund des Sees nichts verloren. Alles, was ins Auto eingestiegen ist, ist jetzt im See.«
»Aber er ist da unten mit Handschellen ans Lenkrad gefesselt. So was macht man doch nicht selbst?«
»Sind Sie da sicher? Sich selbst zu fesseln ist die beste Möglichkeit, einen Selbstmord auch durchzuziehen. Aber der gute Sebastian wird es uns nicht mehr verraten, fürchte ich. Fest steht, dass außer ihm niemand im Auto war.«
»Wo
ist
Lilly
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