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Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
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Lächeln, eine Kopfbewegung – nicht zu ihm passten, als wären sie zu ungenau für seine exakte, sachliche Denkweise. Er hielt eine Distanz, die niemand überbrücken konnte.
    »Wie läuft’s in der Stadt?« fragte ich ihn. Und zehn Sekunden lang schien jemand die Verbindung getrennt zu haben.
    »Gut«, sagte er schließlich. Und nach einer weiteren Pause: »Gehst du heute nicht schwimmen?«
    »Nein.«
    Während des anschließenden Schweigens zuckte eine plötzliche Erinnerung an die Geschehnisse in Gainesville auf, an jenen Morgen im Schwimmbad, als sich die Dinge änderten, als jedes Geräusch von Decke und Wänden abzuprallen schien, sodass ich nicht seinen Ursprung bestimmen konnte … Wie soll ich es beschreiben? Ich hatte schreckliche Angst, dass es keinen Ausgangspunkt mehr gab, dass ich konfus, nicht länger intakt war.
    Der Schwimmlehrer, ein ungarischer Emigrant, der beim Einmarsch der Russen verwundet wurde, holte mich zehn Minuten später aus dem Wasser und klopfte gegen meine Stirn, als wäre sie eine Verandatür. Er sagte, ich wäre begabt, würde es aber nie zu etwas bringen, wenn ich mich nicht anstrengte. Wenn ich meine ganze Kraft nicht fürs Schwimmen mobilisierte.
    Aber das war zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort.
    »Ich hole W. W.«, sagte ich, denn so wurde mein Vater, William Ward James, von aller Welt gerufen, Anita Chester einmal ausgenommen, die ihn mit Mr. James anredete, und alte Freunde, die ihn »World War«, »Weltkrieg«, nannten.
    »Warte eine Sekunde«, sagte Ward.
    Ich wartete und fürchtete, er würde mich über Gainesville ausfragen. Die Augenblicke vergingen.
    »Wie läuft’s bei dir?«
    »Es geht so.«
    »W. W. meinte, du würdest für ihn die Nordroute fahren.«
    »Sechs Tage die Woche.«
    Die
Moat County Tribune
kannte keine Sonntagsausgabe. Mein Vater hatte es einige Jahre zuvor acht Monate lang damit probiert und darüber beinahe sein Blatt verloren.
    »Willst du einen Job?« fragte er mich leise.
    »Einen Lieferwagen fahren?«
    »Nein«, sagte er, »keinen Lieferwagen.«
    Wieder schien die Verbindung tot zu sein.
    »Ein Auto«, sagte er schließlich.
    »Was für ein Auto?«
    »Ich weiß nicht, einen Mietwagen …« Etwas blieb ungesagt.
    »Du brauchst mich doch nicht, damit ich für dich einen Mietwagen fahre«, sagte ich.
    »Doch«, sagte er, »dafür brauche ich dich.«
    ICH WAR MIR NICHT SICHER , ob mein Vater einen festen Zeitpunkt im Sinn hatte – sein Leben lang hatte er immer nur für den nächsten Tag gearbeitet, das entsprach dem ureigenen Rhythmus des Nachrichtenwesens, und mein Vater war nur glücklich, wenn er seine Zeit in täglichen Zeitungsausgaben messen konnte, und unglücklich, wenn er weiter vorausdenken musste, als es die wirtschaftliche Situation seines Geschäftes verlangte –, für mich war daher von Anfang an klar, dass er die Zeitung eines Tages Ward überlassen würde.
    Ich glaube, seine Vision von diesem Augenblick, gewiss irgendeine Zeremonie, blieb auch dann noch bestehen, als sich alles um ihn herum veränderte.
    Er hatte Veränderung immer gutgeheißen, nur diesen Augenblick sparte er davon aus, seine Vision, die so vollkommen und makellos war wie alles in seinen Geschichten.
    Bis mein Bruder aus Miami anrief und fragte, ob ich als sein Fahrer arbeiten wollte, wäre mir auch nie eingefallen, dass ich in der großen Belohnungszeremonie meines Vaters eine Rolle spielen könnte. Ich hatte stets angenommen, dass ich mich bei der Feier vielleicht auf einem Platz in den vorderen Zuschauerreihen wiederfinden würde, etwa neben meiner Mutter und ihrem neuen Mann.
    Doch als ich einige Tage später beim Abendessen erwähnte, dass Ward mir einen Job angeboten hatte, bei dem ich nicht mehr um halb drei morgens aus dem Bett musste, legte mein Vater, ohne zu merken, was er tat, die Gabel neben den Teller und starrte an mir vorbei aus dem Fenster. Ich kannte den Blick aus der Zeit, in der ihn meine Mutter verlassen hatte.
    Er zog sein Taschenmesser aus der Tasche, ließ die Klinge aufschnappen und prüfte mit der Daumenkuppe, ob sie scharf genug war. Dann suchte er, immer noch geistesabwesend, in der Hemdtasche nach einer Herztablette. Das hatte er in letzter Zeit öfter getan.
    Kurz darauf öffnete Anita Chester die Tür, sah das kalt werdende Essen auf dem Teller meines Vaters und dann den Schleier über seinen Augen.
    »Stimmt was nicht mit dem Essen, Mr. James?« fragte sie.
    »Nein, es ist gut«, sagte er und schaute noch immer aus dem

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