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Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
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was danach passiert war.
    »Jedes Jahr an Weihnachten gab es ein Fest«, sagte er. »Wir schauten bei Henry vorbei und zwangen ihn, uns zu begleiten. Wir drängten ihm einen Drink auf und warteten in seinem Wohnzimmer, bis er geduscht und sich umgezogen hatte. Auf dem Weg zum Fest spendierten wir ihm noch einen Drink, gegen den er sich kaum noch sträubte, und dann noch einen …«
    Anita Chester kam mit ihrer Handtasche ins Wohnzimmer.
    »Ich gehe jetzt«, sagte sie.
    Mein Vater nickte geistesabwesend und versuchte, den Faden seiner Geschichte nicht zu verlieren. Anita Chester reckte das Kinn einige Zentimeter in die Höhe und stürmte aus dem Haus. Die Verandatür fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Mein Vater hasste es, wenn die Verandatür zugeschlagen wurde.
    Er schwieg, als wartete er darauf, dass irgendein Schmerz in seiner Brust nachließ, dann setzte er genau da wieder ein, wo er aufgehört hatte.
    »Auf dem Fest«, sagte er, »stand Henry in einer Ecke, kerzengerade wie ein Zinnsoldat, und trank Punsch, den jemand mit Wodka versetzt hatte. Er redete nur, wenn er angesprochen wurde, schüttelte Hände und lächelte, wenn die Chefs ihren Frauen einige Nettigkeiten über seine Arbeit erzählten.«
    Mein Vater schwieg erneut, trank den Wein in seinem Glas aus und schenkte sich wieder ein. »Und dann kam es über ihn«, sagte er leise und klang immer noch verblüfft. »In der einen Sekunde stand er an der Wand, in der nächsten glich er einem tollwütigen Hund, er hatte sogar Schaum vorm Mund. Er fiel über einen Redakteur her, dann ging er dem nächsten an die Kehle. Nur mit mehreren Mann konnten wir ihn überwältigen, aber er befreite sich. Er war so stark wie drei von uns, und mehr konnten ihn nicht gleichzeitig halten. Er stieß eine Frau beiseite, um dann auf ihren Mann loszugehen. Die Frau fiel in den Punsch, und das schien seine Wut in neue Bahnen zu lenken, denn nun fing er an zu schreien: ›Jude‹, ›Itzig‹, es war unfassbar, was er da herumgrölte.«
    Mein Vater hielt erneut inne, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Er hat sich nicht mal den Lohn abgeholt«, sagte er, »er verschwand einfach. Jahre später hörte ich, er sei nach Chicago gegangen, habe dort sechs Monate in einer Nachrichtenredaktion gearbeitet und dann dieselbe Show abgezogen.«
    Mein Vater schaute mich an. »Er war ein Zeitungsmann«, sagte er, »aber es gibt Leute, die sollten Savannah nie verlassen.«
    Ich saß stumm da, fragte mich, was er über meine Exmatrikulation gehört hatte und ob er glaubte, dass ich auch jemand sei, der Savannah niemals verlassen sollte.
    DA ER SELBST AUS DEN Außenbezirken von Miami stammte und daher eigentlich gar keine Wurzeln hatte, hegte Yardley Acheman bei seiner Ankunft in Moat County auch keinen sonderlichen Respekt vor den örtlichen Besonderheiten. Nichts wirkt so lächerlich wie Traditionen, wenn man selbst keine kennt.
    Er stieg in Thorn ohne Hemd aus dem Bus, das dunkle lockige Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern, und er trug eine Under-wood-Schreibmaschine vor sich her. Sie muss um die zehn Kilo gewogen haben. Mein Bruder stieg als Nächster aus. Die Stadt war langes Haar natürlich gewohnt, es war 1969, aber noch nie zuvor hatte man einen Mann mit bloßem Oberkörper und einer Schreibmaschine in den Händen aus dem Bus steigen sehen, und selbst Hal Sharpley, Thorns allseits anerkannter Stadtpenner, stand auf und verkrümelte sich, als Yardley Acheman sich auf Hals Bank setzte, um sich die Schuhe zuzubinden.
    Yardley Acheman war kleiner als mein Bruder und lauter. Beim Abendessen unterbrach er meinen Vater mit eigenen Geschichten, die nicht so gut und nicht so geschliffen formuliert waren. Das machte mir zu schaffen – nicht, weil er meinem Vater ins Wort fiel, sondern weil es so leichthin und abschätzig geschah, weshalb es fast so schien, als wären die abertausend Stunden, die mein Bruder und ich am Abendbrottisch damit zugebracht hatten, um höflich den Geschichten zu lauschen, gar nicht nötig gewesen.
    Lange nachdem mein Vater sich entschuldigt hatte und zu Bett gegangen war, trank Yardley noch ein Bier ums andere, was man am nächsten Morgen auf dem Weg nach Lately riechen konnte. Ich hatte mir einen von Vaters Lieferwagen ausgeliehen, und es wurde eine beschauliche Fahrt. Eine Kolonne Bauarbeiter besserte einen sechs Kilometer langen Straßenabschnitt unmittelbar hinter Thorn aus, und Yardley Acheman warf dann und wann einen Blick aus dem Fenster, um sich die Gegend

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