Paperweight: Literarische Snacks (German Edition)
Ereignis mit der tristen, aufgeblähten Einsicht, daß man derlei lieber erträumt als durchmacht, lieber erwartet als aufführt. Eine Einsicht, die einem vollends klar wird, wenn der letzte Schrecken des Weihnachtsfests glühend heiß aus der Hölle emporsteigt. Der Dankesbrief an Onkel und Tanten.
Als Kind drückt man Weihnachten mit frohem Erstaunen an die Brust und fragt dann verwundert und geknickt: »Das ist es also, was
mach’
ich jetzt damit? Heute ist Weihnachten, und was hat sich geändert? Vor dem Fenster sieht alles aus wie sonst, ich
fühl’
mich wie sonst, ich
seh’
aus wie sonst. Wo ist Weihnachten? Wo ist es hin?« Ja, wohin wohl? Außer in der Phantasie war es nie da.
Teil des Problems ist natürlich, daß immer Frömmigkeit in die Festivitäten krabbelt. Ich habe den Eindruck, die werden von Jahr zu Jahr religiöser. Man sehnt sich richtig nach einer Rückkehr zum Kommerz, danach, die Adventszeit wieder mit materiellen Werten zu erfüllen.
Man erzählt sich die Geschichte, wie Sankt Augustin einen englischen König überzeugte, zum Christentum zu konvertieren, als er mit ihm in einem großen Saal saß und Weihnachten feierte – nur nannte man es noch nicht Weihnachten, sondern vermutlich eine Sonnwendfeier, auf jeden Fall war es eine große Fete im Winter. Wie in jenen Tagen vor Einführung des Dopings möglich, war die Party eine echt starke Sache. Ein großes Feuer knackte vor Scheiten, ein großes Scheit knackte im Feuer, und ein Scheitfeuer knackte im Kamin. Alle hatten Riesenspaß und Freude. Gelüftet wurde nur mit zwei Löchern hoch oben an beiden Enden des Daches.
Mit einemmal, oder auch »plötzlich«, wie wir in England sagen, kam ein Vogel durch eines dieser Löcher in der Wand hereingeflogen, flatterte eine Weile herum und flogdurch das andere wieder hinaus. Der König, den wir Boddlerick nennen wollen – weil ich keine Ahnung habe, wie er wirklich hieß, und nicht im Traum daran denke, meinen schweren Körper die Treppe hinaufzuschleppen, um es nachzuschlagen – und der als eine Art Philosoph galt, drehte sich zu Augustinus, seinem merkwürdig berobten und beheiligenscheinten Gast, und sprach in folgender Weise diese Worte zu ihm: »Siehe dort, o merkwürdig berobter und beheiligenscheinter Gast! Gleicht unser Leben nicht dem dieses armen Vogels? Aus der dunklen und gähnenden Leere sind wir gekommen, sehen uns plötzlich in eine Welt von Farbe und Wärme und Licht, von Musik und Freude und Frohsinn geworfen, flattern für kurze Zeit verängstigt mit unseren Flügeln, bloß um dann wieder in die ewige Kälte und Finsternis hinausgeschleudert zu werden?«
Eine prima Analogie, sollte man denken. Könnte von Jonathan Miller höchstpersönlich stammen. Aber Augustinus wollte nichts davon wissen. »Aber nein, Sire, Majestät, Euer Gnaden«, entgegnete er, »Ihr seht es ganz falsch herum. Unser Leben ist lediglich ein dunkler Übergang im Lichtstrom von Gottes Liebe. Jene, die um Gott wissen, erwartet jenseits des Fensters das Paradies.«
Statt Augustinus zu verklickern, er solle gefälligst nicht so ein blöder alter Dussel sein, sondern noch einen Schluck vom herben Met nehmen und einen Blick auf die derbe Maid werfen, gefiel dem schmalzbrägigen König, was er gehört hatte, und er verfiel mit Pauken und Trompeten, Buch und Kerze dem ganzen funkigen Christengroove. Seither sind dieses Land und seine Weihnachtsfeste verdammt. Denn seit jenem elenden Tage sind die Welt, ihr Licht, ihre Farbe und Musik Dinge, für die wir bis ans Ende unserer Tage Gott Dankesbriefe kritzeln müssen. Wie kleine Kinder, die sich vor dem Schoße des mächtigenWeihnachtsmannes herumlümmeln, können wir nicht einmal die Schönheiten der Welt ohne Schuld, Scham, Furcht und sabbernde Dankbarkeit genießen.
Also schiebt Sankt Gustl ab und rollt Boddlerick auf die Bühne, sage ich. Draußen ist es kalt, dunkel und lieblos, und so gut wie jetzt haben wir es nie wieder. Laßt uns also jetzt Brot unter den Armen verteilen, denn ihrer ist
nicht
das Himmelreich, laßt uns auf den Teppich aschen, uns im Morgenmantel flezen, den ganzen Tag lang Wein süffeln, uns vor der Glotze auf dem Bauch aalen, unsere Dankesbriefe an Omi und Gott vergessen und mal so richtig die Sau rauslassen.
Aber laßt es uns nicht zu Weihnachten tun. Laßt es uns an jedem einzelnen verdammten Tag tun, jetzt und immerdar. Amen.
Voraussagen für 1989
Willkommen in einem hoffentlich sehr einnehmenden Jahr. Es ist offensichtlich noch
Weitere Kostenlose Bücher