Papillon
heißt es. Dort werde ich in einer kleinen Gemeinde ein Jahr verbringen, wie man es von mir verlangt.
Was werde ich tun? Man wird sehen. Stell dir nicht schon im vorhinein Probleme. Mußt du, um dir dein Brot zu verdienen, Erde umgraben, nun, so wirst du Erde umgraben, und damit basta. Ich muß erst lernen, in Freiheit zu leben. Das wird nicht leicht sein. Das Abenteuer geht weiter.
Sieben Uhr früh. Eine schöne tropische Sonne, blauer Himmel ohne Wolken, die Vögel schreien vor Lebenslust, meine Freunde stehen versammelt an der Tür unseres Gartens, auch Piccolino, sauber in Zivil gekleidet, gut rasiert. Alles, die Natur, die Tiere und die Menschen, atmet Freude, feiert meine Entlassung.
Ein Leutnant steht ebenfalls bei der Gruppe, er wird uns nach El Dorado begleiten.
»Geben wir uns einen Abschiedskuß«, sagt Toto.
»Lebt wohl, ihr Burschen alle miteinander. Aber wenn ihr an Le Callao vorbeikommt, dann besucht mich.«
»Leb wohl, Papi, Glückauf!«
Schnell erreichen wir den Anlegeplatz und besteigen die Schaluppe. Piccolino ist tapfer mitmarschiert. Er ist nur oberhalb des Beckens gelähmt, seine Beine laufen recht gut. In weniger als fünfzehn Minuten sind wir über dem Fluß drüben.
»Hier sind die Papiere von Piccolino. Viel Glück, Franzosen! Von jetzt an seid ihr frei. Adios!«
Das ist leichter gesagt als getan: die Ketten, die man dreizehn Jahre lang getragen hat, abzuwerfen. »Von jetzt an seid ihr frei.« Man dreht euch den Rücken. Das ist alles.
Aber so schnell, wie man sich einen Knopf annäht, so schnell schafft man sich kein neues Leben. Und wenn ich heute, fünfundzwanzig Jahre später, verheiratet bin, eine Tochter habe und als venezolanischer Bürger glücklich in Caracas lebe, so nur wieder nach vielen anderen Abenteuern, Erfolgen und Mißerfolgen – aber eben als freier Mann und anständiger Bürger. Ich werde vielleicht einmal auch das alles erzählen, und noch eine Menge ungewöhnlicher Geschichten dazu. Hier habe ich sie nicht mehr untergebracht.
Papillon oder Die gesprochene Literatur
Nachwort von Jean-Francois Revel
Wenn mich einer fragte, an welchen Schriftsteller der Vergangenheit mich Henri Charrière erinnert, so würde ich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, antworten: an Gregor von Tours (540 bis 594). Der Vergleich hat sich mir unwiderstehlich aufgedrängt. Man lese nur etwa die folgende Szene aus der Frankengeschichte des großen gallischen Bischofs:
»Der Zwist zwischen den Einwohnern von Tours, der, wie wir weiter oben berichteten, zu Ende gegangen war, flammte plötzlich mit erneuter Wut auf. Nachdem Sichar die Eltern des Chramnesind ermordet hatte, entbrannte er zu diesem in heftiger Freundschaft, und beide liebten einander so sehr, daß sie oft gemeinsam speisten und sogar miteinander im selben Bett schliefen. Eines Tages nun bereitete Chramnesind für den Abend eine Mahlzeit vor und lud Sichar dazu ein. Als sich aber Sichar schon ganz vollgesoffen hatte mit Wein, begann er auf einmal den Chramnesind zu beschimpfen, und es heißt, er habe ihn zuletzt angeschrien: ›Du schuldest mir großen Dank dafür, lieber Bruder mein, daß ich deine Eltern getötet habe! Durch die Erbschaft, die du gemacht hast, quillt dein Haus jetzt von Gold und Silber über! Wäre aber das Ereignis, das dich so herausgeputzt hat, nicht eingetreten, so wärest du bettelarm und müßtest ein sehr dürftiges Leben führen!‹ Als das der andere hörte, erbitterte er sich über die Äußerung seines Gastes und sagte zu sich selbst: ›Wenn ich den Mord an meinen Eltern nicht räche, verdiene ich nicht, daß man mich einen Mann nennt, wohl aber verdiente ich, ein feiges Weib zu heißen.‹ Und alsogleich löschte er alle Lichter und spaltete dem Sichar den Kopf mit einer Säge. Der beendete sein Leben mit einem Krächzer, fiel um und war tot. Die Sklaven, die mit ihm gekommen waren, stoben auseinander. Chramnesind aber hängte die Leiche, nachdem er ihr alle Kleider abgezogen hatte, an den Ast einer Hecke, saß auf und ritt zum König …«
Und nun lese man im Buch »Papillon«, von »Nackt auf dem eiskalten Gang« bis »und spüre die Schläge nicht mehr«.
In beiden Texten bewegt man sich auf derselben Grundfeste des Erzählens, dort, wo der Bericht in aller Reinheit erscheint, wo Erzählen nichts anderes ist als eben Erzählen. Handlungen, Gedanken, Worte – alle vom gleichen Charakter des Unmittelbaren, Plötzlichen geprägt, ja von einer bizarren Mischung aus Grübelei und
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