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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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Musik. Wird der Form absoluter Vorrang eingeräumt, so setzt sie erst recht die Existenz, die Annahme eines Inhaltes voraus, seine Hypothese wenigstens – als Widerpart, als Gegner, den es zu neutralisieren gilt. Seit dies so ist, hat das Schreiben das Schreiben zum Inhalt, ist das Anliegen der Literatur die Literatur. Ja man sagt, sie sollte überhaupt kein Ziel haben – was die Vorstellung erweckt, die Literatur ziele auf etwas ab, was außerhalb ihrer selbst liegt. Das Werk ist zur Tautologie geworden, aber zu einer Tautologie, die niemand formulieren kann, weil es hier nichts gibt, was sich wiederholen könnte. Stumpfsinn der Parthenogenese: die Literatur redet vom Reden und fragt sich, wie es wohl dazu komme. Nicht von ungefähr haben mehrere »Romane« der letzten Jahre den Schriftsteller im Konflikt mit der Schriftstellerei zum »Thema«, und als Schußgarn für ihr Gewebe beladen sie das Weberschiffchen mit eben dem Text, den sie da vor Auge und Geist des Lesers zu fabrizieren im Begriffe sind und der keine andere Lebensberechtigung hat, als auszusagen, daß er ist, was ihn dann auch gleich dazu berechtigt, zu sein. Eine solche Literatur hat sich jede Rückkehr zu echtem Erzählen verbaut.
    Begreiflich, daß ein erzählerischer, nicht dokumentierender, ein sachlicher und zugleich dichterischer, ein aus Erinnerung oder Phantasie gebildeter Text (im vorliegenden Fall bedeuten alle diese Unterscheidungen wenig) uns heute nur sehr selten unterkommt. Ab und zu nur stößt man auf ihn, in ein paar von der Linie abweichenden Büchern, die man sich, ehe man auf sie trifft, nicht einmal vorstellen kann, die
neben
unserer Zeit erscheinen, die niemand im voraus wollen, anregen, prophezeien kann. Zweifellos genießt eben die Macht der visuellen, vom Ereignis inspirierten dichterischen Beschwörung – keinesfalls jedoch deren verfälschende Umsetzung in die Literatensprache – eine Art Freibrief, die es ihr erlaubt, sich über alle literarischen Schulen und Konjunkturen hinwegzusetzen; ohne es selber zu wissen, versteht sich. Und zweifellos hat das geschriebene Wort diese Macht der Beschwörung nie besessen, das gesprochene immer.
    Denn es handelt sich hier tatsächlich um Gesprochenes, ich meine, um mündlich Ausgesagtes, nicht um das, was man Schreiben nennt. Im »Papillon« ist das Schreiben, die Niederschrift, nur ein Ersatz für die freie Rede; nirgends wird das Gesprochene umgewandelt, nirgends schreitet es über sich selbst hinaus wie in der Zunftsprache der Schriftsteller. Die narrative Kraft Charrières bietet eine solche gesprochene Literatur, die »Literatur« nur dadurch wird, daß man den Bericht eben aufschreiben, daß man ihn »notieren« muß, damit er nicht verlorengehe. Aber der Grundrhythmus der Konzeption und des Ausdrucks ist ganz der des gesprochenen Wortes, der Stimme. Sie muß man beim Lesen wiederzufinden versuchen, genauso wie man eine Partitur liest, die auch nicht Selbstzweck ist, sondern nur ein Mittel, um die musikalische Substanz in ihrer Vollständigkeit wiederherzustellen und zum Erklingen zu bringen. Ich habe übrigens noch nie mit so blinder Sicherheit den Unterschied zwischen geschriebenem und gesprochenem Französisch empfunden wie bei der Lektüre des »Papillon«. Es handelt sich wahrhaftig um zwei getrennte Sprachen, und zwar nicht so sehr wegen des Argots oder des recht ungezwungenen Vokabulars, die er verwendet, sondern wegen kapitaler Abweichungen im Satzbau, wegen bestimmter Wendungen und wegen des affektiven Gehaltes der Worte. Die Versuche zur Wiedereinbringung der gesprochenen Sprache in die Literatur, etwa bei Louis-Ferdinand Céline, leiden alle zu deutlich daran, daß sie nicht die Ausstrahlung des Spontanen haben.
    Anderseits gelingt es gesprochenem Französisch nur äußerst selten, ein abgeschlossenes größeres Werk hervorzubringen ohne die Mithilfe irgendwelcher Kniffe. Vor dem Blatt Papier, das beschrieben werden soll, hält sich der Volksgenius plötzlich für verpflichtet, auf irgendwelche ihm gerade bekannte Brocken des literarischen Französisch zurückzugreifen, sich an sie anzulehnen, und hat schon auf beiden Feldern verloren. (Was herauskommt, nennt man boshaft »Autodidaktenroman«.) Um die furchtbare Barriere der Kultur des geschriebenen Wortes zu überwinden, sich aber dessen nicht bewußt zu werden und damit die Totalität seines erzählerischen Reichtums zu bewahren, als würde man eben, anstatt zu schreiben, reden, dazu gehört die listenreiche

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