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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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alle anderen Figuren in seinen Dialogen? Ich erinnerte mich vage an verschüttete Schulbildung … und dann verstand ich endlich. Rosekast. Es war ein Anagramm.
    Auch Sokrates hatte stets nur Fragen gestellt.
    Rosekasts Fragen waren nur zum Teil Davids eigene Fragen gewesen. Die übrigen, die komplizierteren, hatte er den Bücher entnommen, die er gelesen und die er nicht oder nicht ganz verstanden hatte.
    Und den Brief – Lotta musste das Zitat ausgeschnitten und mir geschickt haben. Irgendein von David angestrichenes Zitat. Ein Gruß aus der Vergangenheit. Sie hatte den Satz vermutlich nicht einmal gelesen. Lotta war auch damals hier gewesen, als ich hier war – vielleicht, um sich an David zu erinnern. Sie hatte das Butterbrot auf dem Fensterbrett liegen lassen, es waren ihre Spuren gewesen, denen der Hund gefolgt war.
    Ich ging zurück in das verfallene Haus, das irgendwann ganz verfallen würde. Wie oft hatten Lotta und David hier aufgeräumt, wenn wieder irgendwelche Tiere die Möbel umgekippt hatten! In dieser Küche hatten sie Tee gekocht, auf diesem Sofa hatten sie gesessen und den verdammten Narnia-Film gesehen.
    War denn der Narnia-Film schuld? Oder das Neue Testament? Aber Tausende, Millionen von anderen Menschen hatten den Narnia-Film gesehen und das Neue Testament gelesen, und keiner von ihnen hatte den Gedanken zu Ende gedacht, was zu tun war, um Gott zurückzuholen; keiner von ihnen hatte beschlossen, alle Menschen zu erreichen. So zu tun, als würde er sich opfern.
    Beinahe musste ich lachen, als ich an Davids absurdeste Theorie dachte: die, dass Jesus gar nicht an Gott geglaubt hatte. Dass das Opfer auch damals nur ein Trick gewesen war, um die Menschen aufzurütteln. Nein, die Bibel war nicht schuld.
    Es blieben nur zwei Schuldige. Davids Eltern.
    »Also keine Kugel mehr für Rosekast«, sagte ich. Ich würde den Rest meines Plans ohne einen toten alten Mann im Garten durchführen. Auch gut.
    Ich stellte mich mitten ins Wohnzimmer, zwischen die verstreuten Büchereibücher – schade drum, niemand würde sie mehr zurückbringen. Sie waren ohnehin zu oft feucht geworden, geschimmelt, stockfleckig. Ich stellte das Gewehr umgekehrt auf den Boden, neben den Couchtisch, auf dem an Lottas Geburtstag Claas’ Laptop gestanden haben musste.
    Es war einfacher, als ich gedacht hatte.
    Ich lehnte meine Stirn gegen die Mündung des Laufs und streckte den Arm aus.
    Einen Moment lang dachte ich wieder an das ängstliche kleine Mädchen, das sich im Spielplatzhäuschen versteckt und graue Kästchen gemalt hatte. Eine Weile hatte ich gedacht, ich hätte die Angst von damals überwunden, ich wäre jemand oder etwas geworden, eine Malerin, eine Ehefrau, eine Mutter, ein selbständiger Mensch. Ich hatte mich getäuscht. Alle diese Dinge waren nur vorübergehende Illusionen gewesen, ich war noch immer das ängstliche kleine Mädchen, das die anderen und ihre Welt nicht verstand. Es war zu spät, lange zu spät, jemand anderer zu werden und als dieser jemand anderer weiterzuleben. Und so schien es vernünftiger, damit aufzuhören.
    Ich zog am Hahn.
    Ich komme. Ich komme.
    Aber wohin denn?
    Ins Nichts? Ins Nirwana? In ein privates Paradies? Ein neues Leben? Eine private Hölle?
    Ich komme nicht, dachte ich, ich gehe. Man kann in diesem Leben nur von den Dingen weggehen.
    Das Bekannte ist stets dort, wo wir es zurücklassen. Dort, wo wir hingehen, liegt das Unbekannte.

    Es kann sein, dass sich in dem Moment, in dem ich den Schuss auslöste, die klemmende Tür zu Rosekasts Hütte öffnete. Es ist möglich, dass es sogar eine Sekunde oder den Bruchteil einer Sekunde früher geschah. Es ist nicht ausgeschlossen, dass jemand hereinstürzte und mich von dem Gewehr wegstieß, ehe der Schuss fiel. Es wäre vorstellbar, dass dieser Jemand zusammen mit mir zu Boden stürzte und mich gleich darauf hochzog und auf Armeslänge von sich abhielt, um mich anzusehen.
    Es war Claas.
    »Oh Himmel«, sagte er, und »Lovis« und »der Hund hat mich hergeführt, er saß zu Hause vor der Tür, ich war gekommen, um noch einmal mit dir zu reden« und »ein Glück« und »Gott!«
    Als er »Gott!« sagte, fing ich wieder an, zu heulen. Claas setzte mich aufs Sofa und hielt mich dort fest, und ich heulte und heulte, völlig würdelos, und erzählte zwischen den einzelnen Schluchzern alles Mögliche, aber in vollkommen verkehrter Reihenfolge und ohne jeden Zusammenhang.
    Von Rosekast, über den ich so viel gelesen hatte und der nie existiert

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