Paradies für alle: Roman (German Edition)
blies, und musterte mich einen Moment lang seltsam. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich und musterte sie meinerseits.
»Sie sind nicht jung und nicht blond«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Aber Sie suchen doch noch?«
»Ich …«
»Nach jemandem, den Sie lieben können?«
»Woher …«
»Sie humpeln ja«, sagte ich, obwohl sie stand. »Sie sind beim Spazierengehen im Wald ganz offenbar umgeknickt und haben sich den Knöchel verstaucht. Jarsens Haus ist das nächste. Besser, Sie gehen hin und lassen sich von ihm nach Hause fahren. Ich glaube, er würde sich freuen, wenn er jemandem helfen könnte.«
Sie schüttelte den Kopf, wahrscheinlich hielt sie mich für völlig durchgedreht, und vielleicht war ich das. Aber als ich mich nach einer Weile umdrehte, da sah ich durch die Bäume, dass sie den Weg am Waldrand entlang eingeschlagen hatte, den auf das Gutshaus zu. Es sah aus, als humpelte sie. Und ich lächelte. Ein letzter abgehakter Punkt auf der Liste.
Auf meiner Wanderung zu Rosekast dachte ich auf einmal an Claas. Ich fragte mich, wo er war.
Seltsam, ich hatte es ihm immer zum Vorwurf gemacht, dass er so viel in der Klinik war. All die Jahre war ich nie darauf gekommen, dass die Klinik ein Ort war, an den er von zu Hause floh.
Ich hätte mich in meinen Bildern versteckt, hatte David geschrieben. Und das war nichts als eine andere Umschreibung für die unsichtbare Mauer.
Es war ein schleichender Prozess gewesen, langsam und tödlich. Claas war häufiger fort gewesen und ich hatte mich häufiger allein gefühlt, hatte die Mauer höher gebaut, hatte mich noch tiefer in meinen Abstraktionen verborgen. Jetzt spielte das natürlich keine Rolle mehr. Es änderte nichts mehr, es zu wissen.
Dennoch tat es mir leid, wie verkehrt alles gelaufen war. Die verschiedenen Gleise, auf denen unsere Leben sich voneinander entfernt hatten, die Mauersteine zwischen uns, das alles tat mir leid. Ich wünschte, ich hätte es Claas sagen können. Aber dazu würde keine Gelegenheit mehr sein.
Ich fand das Gartentörchen vor Rosekasts verfallener Hütte offen. Die Tür ließ sich nicht öffnen, genau wie beim ersten Mal, und niemand erschien auf mein Klopfen und Rufen. Ich drückte fester gegen die Tür, ich warf mich mit dem ganzen Gewicht meiner unermesslichen Wut dagegen, und da sprang sie mit einem Quietschen auf. Sie war einfach verzogen, sie hatte geklemmt. Vielleicht war Rosekast schon bei meinem ersten Besuch eigentlich da gewesen.
Er hatte allen Grund, nicht auf mein Rufen zu antworten.
Ich trat in den dämmerigen Wohnraum, und ein Geruch nach Moder und Schimmel schlug mir entgegen. Nie hatte ich etwas so Verwahrlostes gesehen. Die hohen Regale standen voller Bücher, aber einige lagen auch auf dem Boden verstreut, zwischen halbzerfetzten Sofakissen und Haufen welker Blätter. Die Verandatür nach hinten stand offen, daher die Blätter. Der Teppichboden war voller Erde. Die Tapete löste sich von den Wänden. Jemand hatte irgendwann einen Versuch gemacht, die Fenster zu putzen: Lotta.
Ich hob eines der Bücher auf und las den Titel – Plato: Gorgias. Auf dem Buchrücken klebte der Aufkleber der Stadtbücherei. Das Buch gehörte überhaupt nicht Rosekast. Ich fand mehr Bücher mit dem Stadtbüchereikennzeichen. Hatte Rosekast sie ausgeliehen, oder war das David gewesen? Aber hatte er nicht gesagt, Rosekast besäße diese Bücher über Philosophie? Vielleicht hatte er nur Rosekasts Sammlung ergänzt.
Ich hatte das Gewehr bereits im Wald geladen, ich hatte, so lächerlich es klingt, im Netz nachgesehen, wie man das machte. Ich entsicherte es, als ich durch die Verandatür hinaustrat in den Garten. Da waren sie, die vier Eichen am Ende der ungemähten Wiese, die das Blau des Wassers in ein geometrisches Streifenmuster zerschnitten. Ich hätte sie gerne für David gemalt. Aber David würde nie mehr ein Bild ansehen. Und ich würde nie mehr malen. Weshalb es wieder auf ein und dasselbe hinauskam, oder nicht?
Rosekast saß auf seiner Bank. Es war eine lange, breite Holzbank, und er saß genau in der Mitte, mit dem Rücken zu mir. Er trug eine alte Jacke, einen Schal um den Hals und die Kaninchenfellmütze, die David und Lotta ihm zu Weihnachten geschenkt hatten. Er saß ein wenig vornübergebeugt, vielleicht rauchte er, während er aufs Wasser sah.
Ich bemühte mich, leise aufzutreten.
Ich wollte sehr viel zu Rosekast sagen, aber ich schluckte meine Worte hinunter.
»David stirbt«,
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