Parallelgeschichten
Zwillingsschwester getrennt. Bot ihm geistige und finanzielle Möglichkeiten, die ihm aus dem Familiennest, aus der Eingebundenheit in die Sippe hinaushalfen in die weite Welt.
Jedenfalls spielten sie das gefährliche Spiel, dass so etwas möglich sei.
Die Tante wohnte in der Nähe des Hofgartens, in einer teuren Wohnung, durch die drei hohen Fenster des Esszimmers sah man auf die mächtigen Bäume des uralten Parks hinaus. In Düsseldorf war es an dem Tag nicht sehr kalt, der Himmel aber war dunkel, zwischen den kahlen Bäumen heulte der Wind. In diesen vertrauten Park verkroch sich Döhring. Er vergaß seine Zwillingsschwester, an die er, im Sinn der gegen die Familie gerichteten Verschwörung, immer mit Befremden dachte, er vergaß die Tante, das reichhaltige Gabelfrühstück, die Termine und Verpflichtungen, genauer, alle diese Dinge gerieten an den äußersten Rand seines Bewusstseins, wo er sie kaum noch erreichen konnte.
Eines nur interessierte ihn, der tote Mann, dessen Tod beziehungsweise der Tod selbst, das, was vor seinen Augen geschehen war, was er aber mit niemandem teilen konnte. Er schritt aus, kümmerte sich um nichts, was gut tat. Er wusste, wo er war, was er zu tun hätte, aber er war gegenüber den Dingen um ihn herum gleichgültig geworden. Unabhängig von allen möglichen Gedanken beschäftigte ihn die Frage, ob auf den Bänken, unter den Sträuchern oder zwischen den Bäumen nicht Tote lagen. Er sah aber nur ein paar Eichhörnchen, da und dort einen scheuen Wildhasen. Als hätte der tote Mann noch Überlebenschancen, und als würden diese einzig und allein von Döhrings Aufmerksamkeit abhängen. Als wären ihm die verlassenen Parks der Welt anvertraut, und er müsste sämtliche durchstöbern. Auch das beschäftigte ihn, wie der Tote seine Angehörigen finden würde beziehungsweise sie ihn. Und ob er jemanden hatte. Und ob sich sein Schicksal zum Guten wenden würde, nachdem er so einsam und scheußlich in einem öffentlichen Park umgekommen war, und was er selbst tun könnte. Und was bedeutete überhaupt der Tod? Wie könnte er gutmachen, was er getan hatte. Oder vielmehr, was er nicht getan hatte. Döhring war erregt und gequält von der Möglichkeit, dass er noch etwas tun konnte, das er mit jedem Augenblick versäumte, weil er nicht zur Stelle war, oder vielmehr, dass etwas unwiederbringlich vorbei war und andere gerade etwas taten, das eigentlich er hätte tun müssen.
Er hätte den Toten nicht liegen lassen dürfen.
Gleichzeitig wusste er, wie gefährlich solche Fragen sind und dass man sie am besten so rasch wie möglich vergisst. Er würde ja sowieso nicht jeden Tag Leichen im Park finden. Wenn er in jenem Park eine gefunden hatte, würde er hier bestimmt keine finden. Die Katastrophe ist immer einmalig, zweimal tritt sie nicht ein. Obwohl es ja auch keine Regel gibt, wonach eine Katastrophe nicht gleich eine zweite hervorbringen könnte. Er hoffte jeden Augenblick, es jetzt wirklich zu vergessen, weil er es vergessen wollte, weil er hergekommen war, um es zu vergessen. Das wollte er. Wenn er noch eine Leiche fand, wäre es ja höchstens eine wildfremde. Als würde der Wind seine über den Kies knirschenden Schritte, das Schrittgefühl unter ihm wegblasen. Doch er merkte, dass er sich mit nichts anderem beschäftigen konnte als mit der Leiche, eben weil er ständig damit beschäftigt war, sie endlich zu vergessen. Fortwährend ging er im Geist durch, was wie geschehen war, was er getan und nicht getan hatte, er wollte sich aufs genaueste vergegenwärtigen, was er vergessen wollte und was er dem Kommissar hätte erzählen sollen. Und so lagen da wirklich überall Leichen herum, die er finden würde. Er verstand nicht, was er warum getan hatte, eigentlich war er sich nicht einmal sicher, ob er getan hatte, was er getan hatte, und ob er wirklich mit jedem Augenblick etwas zu tun versäumte.
Er verstand nichts, sah nur einen Film, einen Film über sich selbst, der manchmal riss, dann wieder an ganz anderer Stelle aufblitzte, weiterlief.
Und da, in diesem kahlen, winterlichen, sturmtosenden Park, kam ihm etwas so Unmögliches in den Sinn, dass er stehen bleiben musste.
Er merkte gar nicht, dass er stehen geblieben war. Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt, das war es, woran er plötzlich dachte.
Ich bin sein treuester Spürhund.
Noch nie hatte er daran gedacht, dass er oder die Welt einen Schöpfer hätte, ob es den nun gab oder nicht. Auch daran hatte er noch nie gedacht, dass
Weitere Kostenlose Bücher