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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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tatsächlich auszuführen. Der gedeckte Tisch der Tante, das Gabelfrühstück fielen ihm wieder ein. Er kehrte um, jetzt aber nicht auf dem Gehweg, nicht unter den Bäumen, sondern er bog in die stille Seitenstraße ein, wo die zurückhaltend vornehmen hohen Fenster auf den Park gingen.
    Er kannte sich hier aus, wusste, wo eine Telefonzelle zu finden war. Menschen sah er keine, er begegnete niemandem.
    Zuerst rief er die Auskunft an, hatte aber nichts bei sich, womit er die gesuchte Nummer der Polizeiwache notieren konnte, und so ritzte er sie mit dem Fingernagel in den gelb lackierten Deckel des Telefonbuchs. Weder die Vier noch die Acht gelangen. Er zögerte einen Augenblick, tippte eine andere Nummer ein. Um es rasch hinter sich zu bringen.
    Wie es schon so ist, rechnete er genau nicht mit dem, womit er hätte rechnen müssen.
    Die Tante hatte ihn von oben gesehen.
    Sie war, wütend wegen des Wartens, schon mindestens eine halbe Stunde untätig in der Wohnung umhergelaufen und gerade in dem Augenblick am Esszimmerfenster stehen geblieben, als Döhring unterwegs zur Telefonzelle auf der anderen Straßenseite aufgetaucht war. In ihrer Überraschung schlug die Tante mit dem Kopf gegen die Scheibe. Sie begriff nicht, wieso er von dort kam, wo er doch vom Bahnhof her aus der Gegenrichtung hätte kommen müssen, und überhaupt befand sich der Hauseingang nicht auf der Seite des Parks. Und wenn er mit so viel Verspätung nun endlich aufkreuzte, warum zum Teufel ging er zur Telefonzelle. Sie sah, wie er in der Zelle verschwand, dann nichts mehr, weil sie aus dem dritten Stock in einem zu steilen Winkel hinunterblickte. Ein paar Sekunden lang wartete sie am Fenster auf das Klingeln des Telefons.
    Sie so lange warten lassen, das durfte sich nur selten jemand erlauben.
    Als trotzdem nichts geschah, das erlösende Klingeln ausblieb, ging sie wieder zum schön gedeckten, sinnlos gewordenen Tisch.
    Sie beherrschte sich zwar, aber ihre hohen Absätze klapperten wütend auf dem Parkett.
    Trank zerstreut vom kalt gewordenen Tee. Man muss sich mit etwas beschäftigen. Als hätte sie seit langem vergessen, dass es Dinge gab, mit denen man sie kränken konnte.
    In der großen Wohnung herrschte Totenstille. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen umfasst, stellte sie nicht auf die Untertasse zurück, wollte jetzt das gedämpfte Porzellangeräusch nicht hören. Die Türen standen weit offen, man konnte durch die Zimmerflucht sehen. Die hohen Fenster schirmten das Windgeräusch ab, aber an der Wand schaukelten die blassen, winterlichen Schatten der Äste.
    In jenen Jahren hatten die wohlhabenderen Leute schon seit geraumer Weile den jahrzehntelang angehäuften Ramsch aus ihren Wohnungen geworfen. Kahle Räume waren zurückgeblieben. Vielleicht ging das letztlich auf die ungeheuren Zerstörungen des Kriegs zurück, auf die kaputten Städte. Leere, grellweiße Wände, glänzende Parkettböden, einige Leuchtkörper, die ein kaltes Krankenhauslicht verströmten, einige wie zufällig herumstehende Möbelstücke, das war alles. Auch die Tante hatte in ihrem riesigen Esszimmer nichts anderes stehen als einen langen, leeren Tisch und ungepolsterte, schlichte Stühle. Die moderne Kahlheit war gewiss nicht einfach nur eine Mode. Als lebten die Menschen weniger im Raum als vielmehr in der Zeit. Als hingen sie an nichts mehr stark und innig, weder an Orten noch an Gegenständen. Die Tante war dauernd im Flugzeug unterwegs, hatte überall zu tun, Termine waren das Wichtige, sie schlief in Hotels, besaß mehrere Ferienwohnungen, in denen sie aber nie Ferien machte.
    Wenn sie in ihrer Wohnung nicht gerade Gäste zum Abendessen hatte oder schlief, gab es für sie hier eigentlich nichts zu tun. Die Zimmer hatten noch ihre Bezeichnungen, aber kaum mehr eine Funktion. Zum Beispiel gab es zwischen dem sogenannten Arbeitszimmer und dem sogenannten Esszimmer eine
pièce de dégager
, eine Art Durchgangszimmer, einstmals das Rauchzimmer, in dem sie nur einen antiken chinesischen Teppich gelassen hatte. Allerdings hing von der Decke ein riesiger barocker Lüster. Die beiden Gegenstände passten weder zueinander noch zu dem relativ kleinen Raum, hatten auch keine wirkliche Funktion, trotzdem wirkten sie nicht peinlich. Sie kamen miteinander aus, starrten sich aus unüberbrückbarer Distanz an, hatten nichts miteinander gemein, verkörperten nur unterschiedliche Weltanschauungen. Das entsprach völlig dem Zeitgeist.
    Im Übrigen hatte die Tante schon immer allein

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