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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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sie zutiefst für ihre Betroffenheit, Bewunderung, Erstarrung, Wut, begehrte sie auch deshalb nicht mehr. Schon nach ein paar Tagen hatte er sie still unter die Bediensteten gezählt, auch wenn er aus Bequemlichkeit ihre Dienste ständig in Anspruch nahm. Ágost gehörte zu den Menschen, die am ursprünglichen Muster frühkindlicher Erlebnisse so eisern festhalten, dass sie auch kein anderer durchbrechen kann.
    Er war zehn Jahre alt gewesen, als ihn sein Vater auf siebzehnhundert Metern über dem Meeresspiegel sich selbst überlassen hatte. Im Bereich der Baumgrenze, wo nur noch die verschneiten Gipfel kahler Berge in den Himmel ragen. Er war kein klein gewachsenes Kind, aber plötzlich war alles zu groß und zu hoch. Die Berge, die anderen, die Gewölbe der Schlafsäle. In der dünnen Luft blieb ihm nichts als sein bloßer Körper. Es schauderte ihn, als sei ihm dauernd kalt, während seine Haut brannte, loderte. Er war in eine Welt geraten, in der er nicht mehr wusste, was gut, was schlecht für ihn war. Er hatte auch keine rechten Worte dafür. Er wurde ausgelacht, verspottet, weil er täglich mehrmals und in den unerwartetsten Situationen schwach wurde, leicht, unter seinen Sohlen rutschte die schwere Erde weg, er klappte zusammen und hatte nichts zum Festhalten. Schon in der ersten Nacht wurde er verprügelt. Tagsüber versank er in stille, weiße Ohnmachten, als hoffe er, dass er durch dieses Weiß hindurch an jenen Ort zurückgelangen oder zurückgebracht würde. Doch er verstand einiges mehr, als er eigentlich verstehen konnte; die neuen Wörter ebenso wie das Neue der Lage. Er fand sich unter Leuten wieder, die ihren Körper und ihre Sprache anders benutzten.
    Als sie zum ersten Mal unter die Dusche gingen und er sich ausziehen musste, kam noch etwas anderes in Gang. Eine bis dahin völlig unbekannte Strömung des Lebens. Obwohl sie alle nach einigen Minuten im Dampf verschwunden waren, blieben eine körperliche Spannung und eine Hingabe gleichzeitig präsent, bei ihm und bei den anderen, obwohl es niemand zeigte. Trotzdem spürte er, dass das nackte Sein, das aus den Umrissen seines Körpers strahlte und auch den Dampf durchdrang, nicht ohne Wirkung blieb. Es durchbrach den Dampf und den Lärm des aus den Duschen strömenden Wassers. Nachts prügelten sie ihn so lange, bis er entdeckte, wie man mit dieser Wirkung Geschäfte macht. Bis er selbst mit dieser Ausstrahlung zu handeln begann. Da sprach er schon besser französisch, auch wenn die anderen es sich nicht nehmen ließen, ihn zu korrigieren oder zu tun, als verstünden sie ihn nicht. Er musste die neue Sprache, ihre Körper und auch seinen eigenen lernen. Ja, jetzt tat er es nicht zum ersten Mal, höchstens war es nicht so oft vor den Augen anderer geschehen. Es fiel ihm gar nicht ein, dass es jemanden geben könnte, der dafür kein Verständnis oder nicht wenigstens Nachsicht hatte, der seine Vollkommenheit nicht bewunderte, nicht spürte, wie höchst lustvoll es war, auch nur in seiner Nähe zu sein.
    Unter seinen halbgeschlossenen Wimpern hervor sah er seine glatten Brustmuskeln, den leicht gewölbten, haarlosen festen Bauch, sein von den leisen Berührungen schon einigermaßen angeschwollenes und hart gewordenes, aber noch zwischen den beiden Hodensäcken ruhendes Glied, über das eine hervortretende Ader lief. Er sah seine Knie, seine feingliedrigen, langknochigen Füße; Gyöngyvér liebte es leidenschaftlich, seine Zehen in den Mund zu nehmen, an ihnen zu saugen, zu knabbern. Er stand da wie jemand, der in Gedanken versunken ist, über etwas nachsinnt, unschlüssig und eigentlich gar nicht präsent, bitte nicht stören, er ist abgehoben, er hebt mit seinem sich aufrichtenden, steifer werdenden Schwanz ab, er sieht nicht und will nicht wissen, was um ihn herum geschieht. Er wiederholte immer wieder denselben Bewegungsablauf. Berührte mit gespreizten Fingern sein in dieser späten Stunde schon etwas stoppeliges Kinn, streichelte seine Kinnlade, genoss das Knistern der Stoppeln, dann schnüffelte er, die Lippen zur Nase hochgeschürzt, hintereinander an den Fingerkuppen, als berausche er sich an ihrem besonderen Geruch. Niemand konnte wissen und verstehen, was das Schnüffeln sollte, und warum er die Lippen wie zum Saugen schürzte. Er selbst fragte sich nicht, was er tat, obwohl er es seit dem Institut eigentlich immer wieder getan hatte. Er schwebte in der dichten Geschichte seiner Lust, mit einem Lächeln auf den Lippen, genauer, die reinen

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