Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
wo die Toilette war. Sie stützten ihn, begleiteten ihn, gaben ihm zu trinken, halfen ihm beim Pinkeln und überließen ihn dann wieder sich selbst.
    Er ließ alles gefügig mit sich geschehen, abgesehen von einer Sache. Ins Bett wollte er nicht zurück, das nicht, er wusste schon, warum die das so sehr wollten.
    Im Bett würden sie ihn umbringen. Er stellte sie auf die Probe, ob sie seine Wünsche erfüllten.
    Verlangte rasch etwas zu essen.
    Außer Ilona verstand niemand sein Gemümmel. Nur ein bisschen Brot, sonst nichts. Er würde gern an ein bisschen trockenem Brot kauen. Sie gaben es ihm schon deshalb, weil er, wenn sie ihn nicht verstanden und ihm nichts gaben, am ganzen Körper zu zittern begann, als sei ihm kalt, als schlottere er vor Kälte, während er in Wirklichkeit trocken und tränenlos schluchzte. Diesen Anblick ertrug keiner von ihnen, ohne gerührt zu sein. Am liebsten hockte er mit seinem Brot im Durchgang, der als Esszimmer diente und wo die Lampe immer brannte. Aber er tat bloß so, als nage er am Brot. Auch das gehörte zu seinen neu entdeckten Eigenschaften, seinem ursprünglichen, heimlichen Wissen. Er knabberte ein wenig daran, blickte sich vorsichtig um, stopfte es mit einer raschen, tierhaften Bewegung in den Ärmel seines Nachthemds und passte dann auf, dass es nicht herausrutschte. Er versteckte es hinter seinen Büchern. Dünnere Schnitten steckte er manchmal zwischen die Manuskripthaufen. Die meisten Gegenstände waren an ihrem alten Platz, hatten aber eine neue Funktion. Die beiden Gemälde erkannte er wahrscheinlich noch. Ein anderes Fenster zur Außenwelt hatte er wohl nicht mehr. Manchmal ließen sie ihn die ganze Nacht da, zogen ihm Socken an die Füße, legten ihm eine Decke um die Schultern, und er studierte die unter den Pferdehufen zermalmten Leichen auf dem Schlachtfeld oder plauderte mit dem Honvédhauptmann József Lehr über heikle Gewissensfragen.
    So oder so, es dauerte immer eine gute Stunde, bis nach ihrer Heimkehr endlich wieder Ruhe eingekehrt war und auch unter den Türen kein Licht mehr hindurchsickerte.
    Wenn sie nicht wieder einschlafen konnte, zündete Frau Erna ihre Lampe an und las, oft bis zum Morgengrauen. Aber es verging keine Woche, ohne dass sie ihrem Sohn zusetzte, sie sollten ausziehen. Sie würde es erledigen, organisieren, die Kosten übernehmen. Das ist doch einfach kein Zustand, so geht es wirklich nicht weiter. Sie verwickelten sich in fruchtlose Diskussionen. Nichts wurde ganz klar ausgesprochen, aber beide gaben dem anderen den ganzen Vorrat an angesammelten Vorwürfen zu spüren. Jedes ausgesprochene Wort schmerzte. Und strahlte verdrängte Wut aus. Wegen ein paar Tagen oder Wochen habe es keinen Wert, sein Leben auf den Kopf zu stellen, argumentierte Ágost. Sicher nicht, erwiderte seine Mutter, wenn aus diesen paar Wochen nicht wieder vier Jahre werden. Was durchaus verständlich war, so wie auch Ágosts Argumente nicht jeder Vernunft entbehrten. Aber zwischen ihnen ging es weder um Vernunft noch um gegenseitiges Verständnis.
    Er durfte nicht zulassen, dass ihn seine Mutter erneut verstieß, das würde ihn in einer still quälenden Überzeugung bestärken, wovor er am meisten Angst hatte. Außer mit seinen Freunden sprach er mit niemandem darüber.
    Eigentlich hatte er nie eine Mutter gehabt. Na schön, solange er an einem entfernten Ort gelebt hatte, hatte er mit dieser fremden Frau eine innige Korrespondenz geführt. Und was seinen Vater betraf, so war der
un vrai monstre
, das man besser nicht umbrachte, weil es in zehnfacher Gestalt wiederauferstand. Seine Mutter liebte nicht nur ihn nicht, sondern hatte vielleicht nie jemanden geliebt, dieses Erbe schleppte er mit sich.
Qu’elle aille au diable.
Er spürte, dass er, gerade um den Schein seiner Beziehung zur Mutter zu wahren, ausschließlich freiwillig hier ausziehen wollte, und nicht so, Herrgott noch mal, dass man ihn wegschickte wie eine Rotznase. Und wenn sein Leben Lärm machte, sollen sie es eben ertragen. Jeden Abend hoffte er auf den Anruf am nächsten Tag, auf die vertrauliche Nachricht, den per Boten überbrachten Brief, irgendwas, ein Geheimsignal, einen offenen Befehl, um endlich wieder aus diesem ganzen Jammerland weggehen zu können. Eine Hoffnung, von der Gyöngyvér natürlich nichts wusste. Früher hatte er als Diplomat gearbeitet, und das gefiel ihr sogar, vor vier Jahren war er von seinem letzten Posten zurückgekehrt, jetzt arbeitete er hier, in geheimer Mission, so

Weitere Kostenlose Bücher