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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Muster dieser nicht enthüllten Vergangenheit hatten sich seiner Gesichtszüge bemächtigt, und nur für Uneingeweihte erschien das als Lächeln. Für ihn selbst war es jene wilde und unberechenbare Strömung, vor der er aber keine Angst haben musste, weil sie immer da sein würde und in allen wirksam. Der Geruch war der Eingang, durch den er sein heimliches Leben betrat. Er sah, was er sah, er wusste, was er wusste, es kam ihm dies und das in den Sinn, aber mit dem Duft seines eigenen Körpers vermochte er sich immer von der wirklichen Welt zu lösen. Er schwebte auf ihm zum jenseitigen Ufer hinüber, von dort blickte er auf die anderen zurück und auch auf sich selbst, den er ebenfalls zurückgelassen hatte; die Strömung hatte ihn mitgerissen. Treue hatte keine Bedeutung mehr, hinter jeder neuen Lust lauerte der Verrat.
    An diesem anderen Ufer hatte nichts einen Namen, es gab keinen Zwang, die Dinge zu benennen, die ganze Geschichte hatte keinen einzigen Zeitpunkt, und so hatten auch die Ereignisse kein Gewicht. Beliebig kam er nicht hinüber, aber wenn er einer einzigen und sehr einfachen Bedingung Genüge tat, lag der Überfahrt nichts mehr im Weg. Er musste die Ausscheidungen und den Schweiß seines Körpers an den Fingern aufbewahren. Nach dem Urinieren die Hände nicht waschen. Wenn es niemand sah, sabotierte er täglich ein-, zweimal, sich selbst etwas vormachend, das Händewaschen. Als hätte er es sehr eilig oder hätte zufällig gerade vergessen, was man ihm eingebläut hatte. Das Versäumnis war nicht unbewusst, und doch hätte er nicht sagen können, wann es vorkam, wann nicht. Er wusste auch nicht, ob andere es auch so machten, entdeckte aber, dass es Jungen gab, die in der Nase bohrten. Und heimlich die Popel aßen, oder wenn sie vom Sportplatz zurückkamen und die Socken auszogen, zwischen ihren Zehen stocherten und am dunkelsten Schweißgestank ihrer Füße schnüffelten. Je tiefer der Sumpf der Aussichtslosigkeit erschien, je mehr er sich in Lügen verhedderte oder einfach in eine Zwickmühle geriet, desto häufiger wurde es ein
oui, d’accord, allons.
Wen sonst als sich selbst hätte er sich dazu aussuchen können. Auch wenn seine Verzweiflung Tiefen erreichte, wo er dieses Ja nicht mehr aussprechen konnte, und da wurde ein
non
daraus. Dann sank er, an die Verneinung geklammert, noch tiefer, wo er wenigstens auf nichts mehr heraussah.
    Bis zum heutigen Tag pinkelte er wie ein kleiner Junge. Er zog die stark faltige, ungewohnt lang und trichterartig abstehende Vorhaut nicht zurück, und nach der Verrichtung schüttelte er sie einfach, damit etwas an seinen Fingern blieb. Er steckte die Finger zwischen die Schenkel, unter die Hoden, und fand dort immer einen wertvollen Duft. Aber nur ganz selten wagte er, auch zwischen seine Hinterbacken zu greifen und den muskulös zusammengezogenen, gekräuselten Rand des Enddarms zu berühren. Oder eventuell daran zu reiben und versuchsweise einzudringen. Aber auch das kam vor. An seinen Fingern vermengten sich die Düfte, und da ließ er sie für den Rest des Tages. Rettete sie in die Nacht hinüber, wenn er ungestört an seinen Körper konnte, aber auch dann musste er im blau dämmernden Nachtlicht des Schlafsaals auf der Hut sein, horchen, mit offenen Augen jede kleine Bewegung verfolgen. Er selbst hatte seinen Körper zu diesem dunklen Trotz verleitet, ihn ihm beigebracht, hatte ihn der Gefahr und der Selbstverleugnung ausgeliefert. Er zog es in die Länge, dann streifte er mit dem Duft seine Lippen. Das verlangsamte ihn, fast stockte ihm der Atem, er wurde wieder zum lavierenden, vorsichtigen, mit der tödlichen Gefahr des Ausgeliefertseins spielenden kleinen Jungen, der er einmal gewesen war und den er nie hinter sich gelassen hatte.
    Wenn er seinen Pimmel nicht zwischen die Schenkel klemmen oder ihn nicht einmal durch die Hose hindurch berühren konnte, da ja im Internat jeder fortwährend jeden beobachtete, waren die Düfte der einfachste Trost. Das betraf später auch seinen Schwanz, der allmählich einen durchdringenderen Duft bekam. Trostbedürftig war er fast immer, und die heimliche Art, sich Trost zu verschaffen, konnte zum mindesten bis dahin niemandem aufgefallen sein. Er hatte die Mutprobe bestanden, sich nie strafbar gemacht. Der Erfolg rechtfertigte gewissermaßen nachträglich das Risiko. Der leichtverderbliche Urin, der von unschuldigen sexuellen Erregungen hervorgerufene Spermatropfen, der eingetrocknete Rest der Ejakulationen vom Vortag

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