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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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entsetzlich weh, dass sie wusste, was die Erwachsenen von ihr wollten, es verstand, sich aber doch nicht zum Sprechen entschließen konnte. Und das war immer noch so, der Mensch verändert sich ja vielleicht nie. Der andere war offen, das sah sie, oder zumindest öffnete er sich ihr bereitwillig, sie hingegen blieb verschlossen, und das quälte sie, dann kam die Angst vor der Strafe, sie musste in sich das rachsüchtige kleine Mädchen finden, das nicht sprach.
    Sie gaben fortwährend, gaben und gaben, jeder von ihnen, und doch hatte ich das Gefühl, dass mir diese Fremden alles wegnahmen. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht aussprechen, dass Gustav mein Ziehvater oder Clara meine Ziehmutter gewesen sind. Obwohl ich notariell und standesamtlich beglaubigt ihr Adoptivsohn bin, und glaub mir, versicherte er mit der Stimme des unbekannten kleinen Jungen, sie sind mir viel vertrauter als meine eigenen Eltern.
    Er fand seine Selbstbeherrschung wieder.
    Mir wird nichts bleiben, das fühlte ich voraus. Nichts, niemand. Dieses große kalte Wasser und ihr großes kühles Haus, die Berge, die scharfe Luft sind stärker. Auch das war stärker, wie die Sonne in ihr Esszimmer schien, wie das Besteck leise klapperte.
    Zu Hause scheint sie nicht herein, das weiß ich noch, aber ich weiß nicht mehr, wie mein Zuhause ist.
    Die belegten mich mit Beschlag.
    Schon am ersten Nachmittag nahm mich Clara zusammen mit den Mädchen in die Ballettschule mit. Ich bekam ein Zimmer im ersten Stock, das auch in den Ferien meins sein würde. Aber wo ist bei uns das Esszimmer. Stell dir vor, es vergehen ein paar Tage, sie haben mich noch gar nicht ins Internat gebracht, das wie eine große Belohnung angekündigt ist, weil du dort alles, aber auch wirklich alles lernen und das Gesicht deiner Mutter völlig vergessen wirst. Natürlich aus Rache. Soll sie doch krepieren, nicht mehr vorhanden sein. Deinen Vater kannst du nicht bitten, dass er aus seiner Brieftasche ihr Foto hergeben soll. Woher willst du wissen, was in seiner Brieftasche ist, und du müsstest ihm auch gestehen, dass du das Foto brauchst, weil du dich aus Rache nicht an deine Mutter erinnerst, aus purer Rache.
    Und ich, weißt du, konnte mich als Kind die ganze Zeit nicht von dem Gedanken an sie befreien, auch ich dachte manchmal, dass ich durchdrehen würde, so wie du, Ágost, wegen dieser Ballettschule, in die sie dich mitnahmen. Es war eine fixe Idee, ich dachte immer, dass mich meine Mutter gesehen hatte.
    Als müsste sie jetzt noch sehen, wie verlassen ich bin. Das allerdings sprach sie nicht mehr aus. Gyöngyvér wollte reden, aber es ging nicht recht. Als fragte sie sich, wo ist das Messer, mit dem ich mir die Brust aufschlitzen kann. Es lähmte sie, dass das Leben des anderen voller Einzelheiten war, die sie sich nicht einmal richtig vorstellen konnte. Wie hätte sie ihre Mutter hassen, wie ein Foto erbitten können und von welchem Vater überhaupt. Die Stimme brach ihr immer wieder, sie rutschte zwischen ihren verschiedenen Tonlagen hin und her. Da sie in sich nichts Ähnliches verwahrte, konnte sie sich nicht in die Gedanken des anderen hineinversetzen und musste deshalb dauernd zu ihrer fixen Idee zurückkehren.
    Sie lebt irgendwo, sie müsste sich noch an mich erinnern, sagte sie, als hätte es ihr plötzlich den Atem verschlagen. Sie hat mich gesehen, verstehst du, und ich sie auch.
    Du täuschst dich, Gyöngyvér, man erinnert sich nicht einmal an den, den man liebt. Warum sollte man dann von ihm verlangen, dass er treu sei. Wem, wem denn, wenn man alle und alles vergisst. Morgen wirst du dich nicht mehr an mich erinnern. Es gibt keine Treue. Auch das ist bloß ein Wort.
    Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber ich habe meine Mutter nie gesehen. Oder jedenfalls kann ich mich nicht an sie erinnern. Ich habe überhaupt keine Bilder, und das ist der große Unterschied zwischen uns. Ich kann niemanden um ein Bild bitten. Und dauernd musste ich mit ansehen, wie unendlich leicht das ist. Eine Mutter hat wirklich jeder. Kein Tier, das keine hätte. Die Schweine, die Kälber, die Fohlen haben eine, sagte sie, auch unsere Katzen leckten ihre Jungen, und sie leckte ins offene, aufmerksame Auge des Mannes hinein.
    Gyöngyvér.
    Ja.
    Halt mal ein bisschen den Mund.
    Na gut, erzähle.
    Es gibt keine Mutter. Das ist eine klägliche Illusion. Ich verstehe sie, aber du sehnst dich nach etwas, das es nicht gibt. Auch Gott gibt es nicht. Mit diesen Illusionen muss man früher oder

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