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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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jemanden zu haben.
    Die Tante ihrerseits begriff nicht, warum ihr Neffe krampfhaft an dieser Absurdität festhielt, wozu er das nötig hatte, wenn er doch da im Hofgarten stand, egal, was für eine Frau im Spiel war, wozu die Flunkerei, wozu das Theater.
    Das alles verstand sie nicht, aber natürlich war sie diejenige, die nachgab.
    Carlino, mein Lieber, es gibt zwischen Himmel und Erde so vieles, was ich verstehen müsste, ich gebe mir auch alle Mühe, rief sie sanft und immer noch lachend, aber wenn ich es richtig sehe, fuhr sie zögernd fort, bevor sie ihre Stimme in voller Stärke auf ihn losließ, bist du jetzt an zwei Orten gleichzeitig.
    An was für zwei Orten, was meinst du, fragte Döhring gereizt, und nach seiner Stimme zu schließen schien er wirklich nicht zu verstehen, ich verstehe dich nicht, wie gesagt, ich sollte los.
    Na, das ist ja toll, sagte die Tante, die jetzt keinen Grund mehr sah, ihre Stimme im Zaum zu halten, während du hier unter meinem Fenster telefonierst, marschierst du gerade in Berlin zum Bahnhof los.
    Das ist wirklich hochinteressant.
    So ein Dödel, meinst, du könntest deine Tante so leicht hereinlegen.
    Ihre quirlige gute Laune erhielt eine Antwort, so rasch und bestimmt, wie sie es nicht erwartet hätte.
    Döhring hatte endlich begriffen, wie unvorsichtig er gewesen war. Und das hieß, dass wieder er den Kürzeren gezogen hatte, der Verlierer, der Dummkopf, der ewige Unterlegene war. Er schrie am anderen Ende der Leitung so verzweifelt auf, brüllte so, dass seine Tante nicht nur die Stirn von der Scheibe wegriss, sondern auch den Hörer vom Ohr.
    Wenn sie, brüllte er, wirklich wissen wolle, was passiert sei, dann sage er es jetzt eben, kein Problem. Er habe gestern einen Menschen umgebracht.
    Jawohl, dachte er gleichzeitig, ich habe meinem Schöpfer bei der täglichen Vernichtungsarbeit geholfen. Es tat ihm leid, dass er sich nicht getraute, das laut zu sagen.
    Es war wonnevoll, hier in dieser Telefonzelle zu stehen, draußen der wahnsinnig heulende Wind, und er brüllt das Drittel des Geständnisses, das am ehesten zu machen ist, in die Welt hinaus.
    Er habe geleugnet, weil er gedacht habe, er käme mit heiler Haut davon, brüllte er, aber er werde nicht davonkommen, weil er es nicht wolle.
    Man könne nicht bei allem davonkommen.
    Der Satz ließ ihn erschauern, er zitterte, aber nicht so wie am Vortag, nicht seine Knochen, nicht sein Fleisch, sondern seine Haarwurzeln, seine Bindehaut, seine Epidermis, sie bebten und kribbelten fein.
    Er wolle überhaupt nicht davonkommen. Jawohl, er fahre jetzt nach Berlin zurück, genau. Um seine erste Aussage zu widerrufen. Auf Weihnachten scheiße er. Er wolle es nicht abwarten, und da schauderte nicht mehr nur seine Haut, sondern der Schauder, ein Gemisch aus Angst und Lust, wirkte tiefer.
    Ich will es nicht abwarten, mag nicht, brüllte er, und er fühlte, dass der Schauder völlig unverständlicherweise und völlig unerwartet schon sein Rückenmark erreicht hatte und in der Unterhose sein Schwanz steif wurde.
    Was ihn bis in die Tiefen seiner Seele erniedrigte, denn es hatte ziemlich eindeutig mit der Stimme der Tante, ihrem empörenden Benehmen zu tun. Nicht nur mit dem Lachen, sondern mit dem ganzen scheinbar harmlosen, munteren und verlockenden Spiel, das sie seit seiner frühsten Kindheit zusammen spielten, und er brüllte noch wahnsinniger.
    Döhring wohnte in der Berliner Wohnung der Tante, sie finanzierte sein Studium. Ein verletztes Tier brüllt so, wenn es zur Verteidigung und zum Angriff bereit ist und natürlich weder Dankbarkeit noch Verpflichtung kennt.
    Die Tante am anderen Ende der Leitung verstand es richtig, als Hilferuf.
    Ich scheiße auf die ganze Familie, brüllte Döhring außer sich, und es klang, als scheiße er auf die Tante, auf ihr Geld, auf ihre Wohnung, auf ihre Sammlung.
    Die Zeit ist gekommen, deine Verbrechen zu gestehen.
    Sie würden dann schon erfahren, was ihm zugestoßen war.
    Wie in kritischen Situationen oft der Fall, lösten diese seltsamen, zusammenhanglosen, in den ersten Sekunden völlig unverständlichen und auch akustisch nicht fassbaren, weil zu hastigen, zu lauten, zu pathetischen Sätze bei der Tante gerade das Gegenteil dessen aus, was man hätte erwarten können. Den Sinn der Sätze begriff sie wahrscheinlich gar nicht, da hätte sie ja erschrecken, hilflos werden müssen; beziehungsweise sie nahm sie nicht wörtlich, glaubte nicht, konnte nicht glauben, dass ihr Neffe jemanden ermordet

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