Parallelgeschichten
schon anderthalb Stunden auf dich gewartet habe.
Ich meine ja nur, weil du so lange nicht drangegangen bist, stotterte der junge Mann.
Vielleicht sollten wir nicht davon reden, wann ich drangegangen bin oder nicht, sondern eher davon, was passiert ist, ich warte geduldig auf eine Erklärung.
Nichts ist passiert, sagte der junge Mann empört, das ist passiert, dass ich verschlafen habe. Tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich habe warten lassen.
Na schön, sagte die Tante ein wenig beleidigt.
Du hast also verschlafen, fügte sie gedehnt hinzu, sie schien Zeit gewinnen zu wollen, um die Situation zu verstehen.
Bestimmt bist du zu spät ins Bett gegangen.
Eigentlich hätte sie nicht sagen können, was sie nicht verstand, aber sie verstand nicht. Und vor allem konnte sie mit der ungewohnt dumpfen, belegten Stimme des jungen Mannes, mit seinem aufgeregten oder verkrampften Tonfall nichts anfangen. Während sie aus dem Fenster starrte, um die Telefonzelle im Auge zu behalten, lehnte sie die Stirn wieder gegen die Scheibe. Aus Berlin kam fast stündlich ein Zug an. Wenn er verschlafen hatte, warum hatte er dann nicht vorher angerufen, und warum war er mit solch einer Verspätung aus der Gegenrichtung gekommen.
Sie spürte seinen Wahnsinn förmlich durch die Telefonleitung pulsieren. Die paar Sätze hatten genügt, sie anzustecken.
Sich nicht hineinziehen lassen.
Draußen schaukelten und schwangen lautlos die kahl glänzenden Zweige und Äste; das Fenster hielt den Ton des schroffen Winterwinds ab, nur durchs Telefon war er zu hören. Ein benommen machendes Nebengeräusch. Vielleicht hatte er tatsächlich verschlafen, dann aber an einem ganz anderen Ort, war von ganz woanders hergekommen und überhaupt nicht mit dem Zug, sondern jemand hatte ihn mitgenommen und an der Ecke Inselstraße abgesetzt.
Bestimmt hatte er einen Grund, die Sache zu vertuschen.
Im bewegten Leben eines jungen Mannes war ja nichts undenkbar. Nur hatte ihr Neffe kein bewegtes Leben, er hatte überhaupt kein Leben.
Gerade das war ja ein Grund zu ständiger Besorgnis. Es war unbegreiflich, was mit ihm los war beziehungsweise was alles mit ihm nicht los war.
Carlino, sagte die Tante mit besorgter Stimme, bevor der Neffe antworten konnte. Ich habe wirklich viel Verständnis, akzeptiere fast alles, bin auf nichts neugierig, aber dieses eine Mal verrat mir, wo du herkommst.
Du brauchst mir sonst nichts zu erzählen, aber das interessiert mich, wenn du gestattest.
Der junge Mann, mit vollständigem Namen Carl Maria Döhring, nur die Tante nannte ihn bei dem italienischen Kosenamen, hatte in dem Augenblick nur eines im Sinn, nämlich das Gespräch so kurz wie möglich zu halten. Er durfte die Telefonnummer nicht vergessen, die er mit dem Nagel in den gelben Deckel des Telefonbuchs geritzt hatte und die bedrohlich am Verblassen war. In seiner Aufregung verstand er die Frage falsch.
Er sagte, ich bin in Berlin, woher denn sonst würde ich kommen, ich hoffe sehr, den nächsten Zug zu erwischen.
Den nächsten Zug, die Tante war jetzt doch überrascht, was für einen nächsten Zug, was der junge Mann am anderen Ende der Leitung so verstand, dass sie den Fahrplan auswendig kannte und ihn durchschaut hatte.
Unter der Bedingung, sagte er rasch, um sich aus der Schlinge zu ziehen, dass sie jetzt sofort, wirklich sofort auflegten.
Er habe sich bloß gemeldet, um sich zu entschuldigen.
Er wolle den nächsten Zug unbedingt erwischen, er laufe jetzt los.
Bei ihr werde er keinen Zwischenhalt mehr machen können, aber er werde sich von zu Hause, aus Pfeilen, gleich melden.
Er hoffe, dass sie sich über die Festtage doch noch irgendwie sehen würden.
Die Tante bemerkte ruhig und feierlich, er wisse doch genau, dass sie während der Festtage in Paris sei, aber sie wolle das Ende dieses Scherzes geduldig abwarten. Dann lachte sie, als hätte sie selbst einen besonders guten Scherz gemacht, aus vollem Hals ins Telefon. Sie wollte ihm zu verstehen geben, dass sie schon wusste, was hinter der Sache steckte: eine Frau. Sie hatte ein genüssliches Lachen. Womit die Verwirrung zwischen ihnen komplett wurde. Carlino verstand nicht, was die Tante nicht verstand oder was er ihr noch begreiflich machen müsste, damit sie verstand und akzeptierte, abgesehen davon, dass ihn ihr anzügliches Lachen ärgerte und verletzte, es traf ihn an einer seiner empfindlichsten Stellen.
Er hatte niemanden. Hatte noch nie jemanden gehabt. War nicht einmal je nahe daran gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher