Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
haben sollte, und deshalb interessierte es sie auch nicht, wen er ermordet hätte.
    Niemanden.
    Was mit den Sätzen ausgesprochen wurde, interessierte sie nicht, trotzdem erfasste sie alles, verstand alles ganz genau und wusste auch, was zu tun war. Sie nahm den emotionalen Gehalt der Sätze wahr, und instinktiv begann auch sie zu brüllen.
    Die stärkere Stimme hatte sie.
    Mit tierischem Instinkt brüllte sie zurück, als wollte sie das andere Tier benommen machen, es an seinen Ort bannen.
    Du gehst nirgendhin, hast du verstanden? Du bleibst, wo du bist, verstanden? Du rührst dich nicht von der Stelle, verstanden? Du machst ohne mich niemandem das geringste Geständnis, verstanden?
    Sie brüllte aus voller Brust, aus vollem Bauch, die Töne kamen nicht aus der Kehle, nicht aus dem Kopf, sondern von unten herauf, stark, ausladend, schallend und hallend.
    Sie brüllte und hatte doch plötzlich das Gefühl von Kühle in der Seele, als nehme sie gar keinen Anteil, als brülle sie gerade aus Mangel an Leidenschaft.
    Etwas Wesentliches fehlte.
    Sie tat das Richtige, kein Zweifel, und doch war sie bei ihrem Gebrüll nicht sie selbst. Als handle sie anstelle einer fremden Person. Sie hatte schon lange niemanden mehr angebrüllt. Vielleicht hatte sie überhaupt noch nie so gebrüllt, ihr selbst war es fremd. Es war völlig verwirrend, sie spürte, dass das Eigentliche ihres Wesens weder vom verworrenen und riskanten Geständnis ihres Neffen noch von ihrem eigenen gewollten Gebrüll berührt wurde.
    Sie nahm etwas wahr, eine durchaus tiefgreifende Veränderung, wie sie es im Leben noch nie gespürt hatte, einen sich als tiefe, schmerzende Wunde manifestierenden Mangel.
    Ihr Gebrüll bekam etwas Verzweifeltes, sie erschrak vor sich selbst.
    Jetzt will ich dir etwas sagen, brüllte sie, und du hörst mir ganz genau zu.
    In dem Augenblick wurde die Verbindung unterbrochen.
    Aus den Tiefen der riesigen Wohnung, durch die leeren Zimmerfluchten war das Rennen weiblicher Schritte zu hören.
    Inès, brüllte die Tante mit dem Hörer in der Hand, obwohl sie gehört hatte, dass die portugiesische Haushalthilfe, die bis dahin irgendwo im hinteren Trakt der großen Wohnung friedlich gebügelt hatte, schon auf dem Weg war zu ihr.
    Vom Fenster durfte sie sich nicht wegbewegen.
    Sie rechnete damit, dass die Tür der Telefonzelle jeden Moment auffliegen und Carlino durch den Park weglaufen würde.
    Inès, brüllte sie erneut.
    Und dann müsste sie ihn im Park erwischen, oder am Bahnhof, irgendwo würde sie ihn erwischen, aber das Fenster durfte nicht unbewacht bleiben.
    Aber die Tür der Telefonzelle flog nicht auf.
    Döhring stand nämlich längere Zeit einfach da, mit gesenktem Kopf, mehrfach gedemütigt. Die Hand am Hörer, noch so wie eben, als er vorsichtig und unbarmherzig aufgehängt hatte, weil er die Stimme der Tante nicht mehr ertragen konnte.
    Als hätte er an seinen Füßen etwas Erschreckendes entdeckt; er trug teure englische Lederschuhe. Die Stimme der Tante hatte ihn tatsächlich verhext, er war benommen von der unangenehm starken Erektion.
    Was sollte er damit anfangen.
    In einem solchen Zustand wagte er nicht, Dr. Kienast anzurufen.
    Seine Jacke stand offen, aber zum Glück war seiner Hose kaum etwas anzusehen. Er wartete, dass es vorbeiging, was hieß, dass er auf alles achten durfte, nur darauf nicht. Es hatte einer ziemlichen Kraftanstrengung bedurft, sich von der Tante loszureißen; nicht auf sie zu hören, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was sie von ihm wollte, doch gegen das, was da in seinem Lendenbereich geschah, konnte er nichts ausrichten. Er konnte höchstens warten, bis sein Körper von sich aus ein Einsehen hatte.
    Das war aber gefährlich, denn wenn die Tante zum Mantel griff, blieb nicht mehr viel Zeit.
    Döhring kleidete sich weder gewählt noch sorgfältig. Die beiden besseren Stücke, die handgefertigten, etwas derben, aber sehr bequemen und unverwüstlichen Schuhe und die mit kariertem Wollstoff gefütterte dunkelgrüne schottische Windjacke stammten von der Tante. Dazu trug er Jeans, ein ungebügeltes Hemd, darunter ein weißes T-Shirt wie die amerikanischen Filmhelden, und es musste schon sehr kalt sein, damit er einen Pullover darüberzog.
    Er hatte aber eine heimliche Schwäche, seine Unterhosen, seine Badehosen, seine Jogginghosen. Wenn er hin und wieder einen Pullover anzog, dann nur, weil ihn seine Stiefmutter gestrickt hatte. Um nicht alle Brücken abzureißen.
    Seine Slips waren ganz knapp, rot,

Weitere Kostenlose Bücher