Parallelgeschichten
fremd.
Sie musste durch sich selbst hindurchbrechen.
Da sind sie ja, die verfluchten Dinger, hier drunter, rief sie, wie um sich zu beherrschen, wo denn sonst, wobei sie ihren ersten Wutausbruch doch nur mit einer neuerlichen Aufwallung zu bremsen vermochte. Wieso zum Teufel bin ich aus dieser ganzen verdammten Wohnung noch nicht ausgezogen.
Ich verstehe es selber nicht.
Die beiden Frauen in der Küchentür sagten nichts, sprachlos vor dieser neuen Wendung. Es war nämlich noch jemand in der Wohnung, eine viel jüngere Frau. Sie lag im entferntesten Zimmer oder saß mit einer Decke auf der Terrasse, in einer Art vegetativem Zustand. Die Tür jenes Zimmer war meistens geschlossen, und wenn es einen Grund gab, warum Mária Szapáry seit der Belagerung nicht ausziehen konnte, dann war es diese kranke Frau, ihre kranke Freundin, jedenfalls von anderen wurde sie so genannt.
Deshalb kamen sie fast jeden Abend hierher, damit Mária sie nicht allein lassen musste.
Im Spülbecken klirrte und rutschte das schmutzige Geschirr unter ihren Händen weg. Bella wollte sich schon rühren, um ihr zu helfen, riskierte es aber doch lieber nicht.
Vielleicht wegen Elisa, Margit Huber versuchte es mit veränderter Stimme, vorsichtig und mitfühlend, obwohl sie wusste, dass sie damit zu weit ging.
Ist eventuell in ihrem Zustand eine Veränderung eingetreten, ich meine, irgendeine negative Veränderung, wenn ich das fragen darf.
Mária Szapáry hätte ihr am liebsten mit einem Blick gleich das erste Wort abgewürgt. Was nicht gelang, und so verstummte Margit Huber nur allmählich. Zwei solche Scheißweiber. Stecken die Nase in ihr sorglichst gehütetes Geheimnis.
Dabei hatte sie vor ihnen gar keine sorglichst gehüteten Geheimnisse. Höchstens, dass sie über gewisse Dinge nie redeten, und das Schweigen darüber hatte nicht nur seine strenge Logik, sondern war auch in moralischer Hinsicht nicht unbegründet.
Ich platze vor Wut.
Es gibt mehrere Dinge auf der Welt, deren Sinn unfassbar ist und die nur selten durch Wissen erhellt werden können.
Sie tobte, wenn auch nicht völlig außer Rand und Band, und dementsprechend klirrte und schepperte unter ihren Händen das Geschirr, Emaille auf Metall, Porzellan auf Glas. Während sie mit einer kleinen, geradezu geschrumpften Stimme weiter herumschrie, was natürlich auch als Siegel der Freundschaft gelten konnte, stieß sie endlich auf zwei lange Gläser. Sich so gehenzulassen durfte sie sich sonst vor niemandem erlauben. Sie wusste, dass sie mit ihren Freundinnen ungerecht war, aber mit wem sonst sollte sie ungerecht sein. An den undurchsichtigen Gläsern eingetrocknete Fetzen von Zitronen, auf dem Glasboden Zitronenkerne in steinhart gewordenem Zucker. Sie musste sich die Ungerechtigkeit erlauben, damit auch ihnen wehtat, was so schmerzte und was sie mit niemandem teilen konnte, nie, nie. In nüchternen Momenten war sie dankbar dafür. Dass es da um sie diese immer verletzlicheren Frauen gab, die doch noch so waren wie als junge Mädchen, in Schmerz konserviert. Mit einer Hand fischte sie die beiden Gläser heraus, erinnerte sich auch genau, wo im Haufen das dritte zu finden war, wozu sie aber mit dem Arm das angehobene Geschirr stützen musste.
Elisa hat keinen Zustand, merkt euch das ein für alle Mal, zischte sie. Sie hatte nie einen und wird nie einen haben. Und was heißt schon Zustand. In ihrem Zustand kann es sowieso keine Veränderungen geben. Überhaupt ist sie die Letzte, die mir Sorgen macht.
Ich begreife nicht, wie man eine so unschuldige Frage missverstehen kann.
Außer mit Absicht.
Sorgen macht nur ihr mir, oder die Frage, warum ich nicht aus dieser verlausten Wohnung ausgezogen bin, sonst nichts. Warum ich hier nicht loskomme. Ich ertrage das nicht, diesen Lärm, er ist katastrophal.
Wieso bin ich noch immer da.
Das verlaust wäre in der Stadt vielleicht sonst überall gültig und berechtigt gewesen, nicht aber in der sauber und übersichtlich gebauten, relativ in Ordnung gehaltenen Neuleopoldstadt. Das Adjektiv war auch dann nicht angebracht, wenn man nicht vergessen hatte, was im Winter vierundvierzig im Szent-István-Park und auf dem Kai von Újpest geschehen war. Und wie im November sechsundfünfzig die gefrorenen Leichen genau hier von einem Lastwagen abgeladen wurden, ja, genau hier. Nicht der Lärm war das Problem, überhaupt nicht. Und ausziehen hieß, warum sie nicht aus dem Land weggegangen war, und Wohnung hieß vielleicht, dass sie diese ganze elende
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