Parallelgeschichten
sagen, das letzte Mal habe ich sie vielleicht gesehen, als ich achtunddreißig von Berlin nach Hause kam. Auch da nur flüchtig. Ihre Tochter habe die Zöpfe nicht einmal nach dem Abitur abschneiden wollen, eine tiefgläubige Seele, die am liebsten gefältelte Röcke und Matrosenblusen getragen habe.
Sie wurde mit vier anderen verhaftet, wegen einer unbedeutenden kleinen Agitation, eine Kinderei, und ins Majestic hinaufgebracht.
Dieses Majestic wollte sie leichthin aussprechen, denn auch Mária Szapáry war vierundvierzig nach ihrer Verhaftung in die Villa der Gestapo auf dem Sváb-Hügel verbracht worden.
Sie hatte durch das mit Brettern vernagelte Fenster ihrer Zelle zugehört, wie die Zahnradbahn bei der Station Művész-Straße anhielt und wieder anfuhr. Am zweiten Tag hatte sie anhand der Geräusche ausmachen können, wo sie war. Margit Huber wartete, beobachtete einen Augenblick die Miene ihrer Freundin gebannt. Dort war sie mehrmals verprügelt worden. Aber sie sagte nichts. Mit einem abweisenden Lippenzucken und in gleichgültiger Erwartung hob sie die starken Augenbrauen.
Eine Woche danach seien sie nach Berlin transportiert worden, sagte Erna Demén, direkt zum Alexanderplatz. Die wollten eine große Angelegenheit daraus machen. Bis dort hätten sie ihren Weg verfolgen können, danach habe es nur noch einen Augenzeugen gegeben, der habe gesagt, sie sei mit einem Transport nach Ravensbrück gebracht worden. Sie haben sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, Lehr hatte ja zu allen, auch zu den Nazis, die entsprechenden Verbindungen.
Das ganz kurz ihre Geschichte.
Und jetzt hat sie Informationen bekommen, die im Seidenkleid übernahm das Wort, dass das Mädchen, nicht wahr, mit Irmusch zusammen auf dem Todesmarsch nach Helmbrechts gewesen ist.
Ach nein.
Ja.
Kann sein, es ist bloß ein Missverständnis oder ein fataler Irrtum.
Jetzt war allen klar, dass sie es besprechen sollten, bevor Frau Szemző eintraf. Ob sie sie damit belasten oder warten oder vielleicht vorsichtig auf die Aufgabe vorbereiten sollten, die schon aus mitmenschlichen Gründen nicht zu vermeiden war, oder ob sie lieber schweigen sollten. Aber Mária Szapáry benahm sich, als wäre die Sache nicht eilig, ja, als verstünde sie das Ganze nicht. Sie schwenkte ihren großen Kopf, schien gleichzeitig Ja und Nein zu sagen. Und betonte damit ihr verstocktes Schweigen.
Wenn von solchen Themen die Rede war, schwieg sie. Unmittelbar nach der Belagerung hatten sie noch über die unmöglichsten Dinge gelacht. Aber im Lauf der Jahre, geändert hatte sich zwar nichts, fiel es ihr doch immer schwerer, sich zum Reden zu entschließen, trotz zeitlicher Distanz, trotz des Vergessens, es ging einfach nicht. Ihr Gaumen, ihre Nase, vielleicht auch die Schleimhaut ihrer Mundhöhle hatten den Leichengeruch bewahrt. Es kamen ihr lauter Dinge in den Sinn, die man nicht mit nüchterner Stimme aussprechen konnte.
Der Schlitten mit den Riemen, wo ist der Schlitten hingekommen, auf dem sie die gefrorenen russischen Leichen schleppen mussten. Auch das hatte sie niemandem erzählt, nur einmal Médi, dass sie, ohne sich übers Terrassengeländer zu beugen, damit sie nicht gesehen wurde, sondern an die glatten Sandsteinplatten der Brüstung gedrückt, ihre Spiegelreflexkamera über den Kopf hochgehalten und drei Tage lang fotografiert hatte.
Auf den Bildern das trockene Becken des Szent-István-Parks, in das die Menschen hineingetrieben wurden, und die gelben Klinkerplatten der Fahrbahn, über die man die Gruppen herbeiführte. Jetzt fiel es ihr ein, sie hatte im Keller des Majestic doch ein bezopftes Mädchen gesehen; obwohl sie dort überhaupt kein Mädchen gesehen hatte. Habe ich nicht gesehen. Habe nur die grob verputzte Ziegelwand des Gangs gesehen. Als müsste sie sich herausreden. Die Filme ließ sie nicht entwickeln, bewahrte sie aber im Geheimfach ihres gänzlich aus dem Leim gegangenen Barocksekretärs auf.
Und dann verstand sie überhaupt nicht, was so ein unglückseliges Weibsbild darüber erfahren wollte, worauf die noch neugierig war. Was würde sie wohl mit ihrem Wissen anfangen, wenn sie es wüsste, was nützte ihr das. Warum ihr dann dazu verhelfen. Das aber durfte sie nicht laut sagen, das ging nicht, da roch sie doch lieber wieder den süßen Duft der Petunien. Auch das konnte sie nicht sagen, nicht einmal denen da. Über den süßen Leichengeruch bewahrte sie tiefes Schweigen. Auch darüber, dass sie jedes Jahr zwanghaft ihre Blumen pflanzte,
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