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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Welt nicht verlassen konnte. Und ihre Wut hieß, wohin sie denn sonst gehen könnte.
    Margit Huber verstand mit einem Mal, dass Mária an ihrem übergroßen Mitleid litt. Und kaum hatte sie das verstanden, brauchte sie nicht mehr lange zu überlegen, wie sie antworten sollte. Auch wenn sie zuerst wieder eine würgende Eifersucht, auf Irma und vor allem auf Elisa, niederringen musste. Immer wieder musste sie das. Mária hat keine Kinder, die ermordet worden sind. Und erträgt die Last des Mitleids nicht. Sie ist nicht deportiert worden, sie musste nur ohnmächtig zusehen, wie andere deportiert wurden. Nicht ihr ist das zuteilgeworden. Und in der Jugend hatte sie keine Hirnblutung gehabt, sie bedarf keiner Pflege, und so hat niemand Mitleid mit ihr.
    Natürlich sprach Margit nicht aus, was sie dachte. Schon deshalb nicht, weil es in dieser Situation wirklich nicht um ihre Eifersucht ging.
    Sie hatte acht Jahre als Korrepetitorin an der Berliner Oper, dann zwanzig Jahre an der Budapester Oper gearbeitet. Von der inneren Logik hysterischer Wutanfälle hatte sie eine genaue Vorstellung und wusste, wie man seine schutzbefohlenen Sänger mit einem Lächeln dazu bringen beziehungsweise dazu anhalten konnte, sich abzuregen. Die vermochten die dunklen Tiefen ihrer Ängste bloß mit manischen Wiederholungen zu manifestieren, und wenn es aus der Wiederholerei keinen Ausweg mehr gab, dann hieß es eingreifen. Die erwarteten und wollten, dass sie mitging, dass ihre Nervenstränge mitgezogen und mitverwickelt wurden, um sie kraft ihres Wahns in die Tiefe mitzureißen. Sie musste lächeln und teilnahmslos bleiben. Was nicht so schwer war, man weicht ja instinktiv jedem kleinen Schmerz aus, den andere verursachen, und sie schützte sich mit dem Panzer ihres unverbrüchlichen Lächelns. Es gelang zwar nicht immer, die Hysterie zu beruhigen, wenn aber doch, erfüllte sie das mit solcher Befriedigung, dass ihr Lächeln einen Sinn bekam.
    Aber fast noch wichtiger war der professionelle Aspekt des Abbremsens und Nützlichmachens der Hysterie. Der Zusammenhang zwischen dramatischer Kraft und Atmung, ihre Wirkung, Authentizität, ihre Proportionen und Ausdruckstechniken, alles Dinge, mit denen sie und ihre Sänger arbeiteten.
    Später konnte man darauf zurückgreifen wie auf eine professionell angelegte Beispielsammlung.
    Sie stabilisierte, senkte und verdichtete in sich die Luftsäule, wovon sich die Haltung ihres imposanten Körpers veränderte.
    Die Freundinnen nannten sie unter sich Brünhild oder Kriemhild, womit sie ihre befremdete Bewunderung und ihr sehnsüchtiges Überwältigtsein ausdrückten. Sie waren im altehrwürdigen, für seinen Liberalismus weithin berühmten Budapester Lyzeum in der Veres-Pálné-Straße unzertrennliche Freundinnen geworden und kannten auch Erna Demén von dorther. In den fünfzigköpfigen Klassen fanden sich Reiche, Arme, Bürgerliche und Aristokratinnen, Schwäbinnen, Slowakinnen, Ungarinnen und Jüdinnen, und schon da wurde Margit bewundert für die fremde, großmächtige Frau mit dem Riesenlächeln, die in ihr steckte. Im Sommer wurde ihr blondes Haar ganz hell, die Sonne durfte ohne weiteres an ihre Haut heran, sie war wirklich sehenswert.
    Vom Ende der zwanziger Jahre an, als die Frauen schon ganz befreit an die Sonne gingen, sog sie, sämtlicher Kleidungsstücke entledigt, mit Wonne das Licht auf und ließ ihren Körper braun braten. Das hatte nicht viel mit Männern zu tun, schon damals hatte ihr die ängstliche Bewunderung der Jungen nichts bedeutet. Jetzt war sie schlohweiß geworden, der Haarkranz über ihrer glatten braunen Stirn leuchtete, seine Masse war natürlich nicht mehr so dicht. Ihre Augen glänzten, wenn sie von einem tieferen Register, noch vorsichtig, erst ihre wärmste Tonlage anschlagend, tief anklingen lassend, mit steigender Kraft die Luftsäule ertönen ließ.
    Du weißt doch selbst, Mária, dass du Unsinn redest, sagte Margit. Wie hättest du ausziehen können und wohin wohl, mit Elisa, um Gottes willen. Aber vor allem, wieso hättest du ausziehen sollen, egal wohin. Man kann doch nicht einfach jedes Mal ausziehen, statt das Geschirr zu spülen, Himmelherrgott.
    Nach dem letzten Wort, das in der Luft richtig stehenblieb, es war ja auch der stärkste Fluch unter den Freundinnen, entstand eine Pause. Mit dem nächsten Satz wollte Margit den Ton beträchtlich hochschrauben und auch seine Färbung intensivieren. Der Satz würde lang sein, kompliziert, die Tonstärke würde die

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