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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Zeit mit ihm verflocht. Vielleicht näherte sich ein zweiter Schlepper. Wahrscheinlich aus der Gegenrichtung, von der Árpád-Brücke her, und die beiden Rhythmen waren nicht gleich. Mária begann an der glatten Tür herunterzurutschen, wie vom eigenen Gewicht gezogen. Sie hätte sogar sagen können, dass der Schlepper jetzt bei dem leeren, vor der reformierten Kirche der Pozsonyi-Straße befindlichen Uferstück anlangte, wo das Echo leiser war.
    Nur dann war Stille über dem Fluss, wenn er Eisschollen trieb oder zugefroren war.
    Siehst du, brüllte Margit Huber, siehst du, wieherte sie. Das habe ich kommen sehen, ich schwör’s.
    Ach, zeig mal dein Fingerchen, rief Izabella Dobrovan voller Besorgnis, um ihr aufsprudelndes Lachen gleich in sentimentales Mitleid zu verwandeln.
    Das ist bestimmt sehr tief gegangen.
    Mária Szapáry stimmte daumenlutschend in das Geschrei ein, während sie von Lachen geschüttelt wurde, oder von Weinen.
    Ach je, mein ganzes sechzehntes Jahrhundert.
    Ihr Mund füllte sich mit dem Blutgeschmack. Sie rutschte immer weiter herunter, bis sie auf dem Boden saß. Es war ein Herumkaspern, weil sie sich für die Zustände in der Küche und für ihre Ungeschicklichkeit doch ein wenig schämte.
    Mein ganzes sechzehntes Jahrhundert ist hin.
    Da saß sie mit gestreckten, gespreizten Beinen inmitten der Scherben des aus der Manufaktur von Urbino stammenden, echten musealen Wert aufweisenden Keramikgeschirrs auf den karierten Fliesen und erfasste nur mit Mühe, dass hiermit wieder eine Geschichte zu Ende war.
    Nicht der Finger tat weh.
    Als draußen kurz geklingelt wurde, dachte sie gerade, das ist wirklich kein Schicksalsschlag, hat keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen.
    Habt ihr den Lift gehört, fragte sie und staunte, dass sie etwas, das sie hätte hören sollen, nicht gehört hatte.
    Ich nämlich nicht.
    Nein, überhaupt nicht.
    Die wird doch nicht zu Fuß heraufgekommen sein.
    Offenbar schon.
    Ich gehe, wenn’s dir recht ist, sagte Dobrovan zuvorkommend.
    Ich gehe, sagte Mária entschlossen, aber sie beeilte sich nicht.
    Das Türöffnen wollte sie ihnen nicht überlassen, sie brauchte das.
    An diesem Abend war Frau Szemző tatsächlich zu Fuß heraufgekommen, ganz langsam.
    Sie war auf den Treppenabsätzen stehen geblieben, in Gedanken versunken, besser gesagt, sie vergaß über längere Strecken, wo sie war und wohin sie ging. Je höher sie stieg, umso wärmer wurde es, obwohl die Treppenhausfenster zum Innenhof in jedem Stockwerk offen standen. Die Wände waren mit gelblich und bläulich geädertem, rosarot geflecktem weißem Marmor verkleidet, es herrschten Ruhe und Sauberkeit. Und heute Abend hätte sie selbst dann nicht ins alkoholgedunsene Gesicht des Hauswarts blicken mögen, wenn dieser Hauswart sie nicht sowieso schon angewidert hätte. Der gehörte zu den Leuten, die nicht gern anständig bleiben und sich selbst förmlich zum Unanständigsein anstacheln, wozu ihnen aber die elementare Begabung fehlt. Im Spiegel der geräumigen Liftkabine nahm Frau Szemző allabendlich das unsichere, weiche, etwas gedrückte Profil dieses mit der Schwermut kämpfenden Menschen unbeteiligt in Augenschein, seinen ewig gesenkten Kopf, seinen kurzen, stets eingezogenen Hals, seinen starken, gutgebauten Körper, aus dem dennoch Kraftlosigkeit und der saure Geruch geistiger Ungelüftetheit strömten; und sein starker Mundgeruch, wenn er redete.
    Sie prüfte den Zustand seiner Neurose, ertastete ihre Beschaffenheit, die sich in einer an Wahnsinn grenzenden Entfremdung manifestierte, in welcher sie sozusagen den günstigsten Nährboden fand.
    Jedes Mal musste Frau Szemző feststellen, dass er ein Grenzfall war und sie nichts für ihn tun könnte.
    Vierundvierzig war es Varga gewesen, der Mária Szapáry geholfen und dabei nicht wenig riskiert hatte. Doch dafür verachtete er sich eher, als wäre es eine Schwäche.
    Er hatte es nicht aus Überzeugung getan.
    Für die verdächtigen Gestalten, die bei Mária Szapáry ein und aus gegangen waren, die untergetauchten Juden, die in die Illegalität gezwungenen Kommunisten und Sozialdemokraten und die diversen Deserteure, hatte er eine ehrliche Verachtung gehabt, Abschaum war das. Deshalb gab es unter den Ungarn immer Zwiste, weil immer noch solche da waren. Solche müssen wirklich mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Varga war ein Befürworter der harten Hand, der strengen Gesellschaftsordnung, des einheitlichen Ungarntums. Die rassistisch unbarmherzig glatten

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