Parallelgeschichten
Wirklichkeit war das kurze Gespräch beiden unangenehm gewesen, krampfhaft verbargen sie voreinander das Unbehagen.
Ich gehe voran, wenn du gestattest.
Aber bitte.
Und während sie sich heftige Vorwürfe machte, konnte sie nicht anders, sie freute sich, dass Irma mitkam. Sie ging mit ihren Freundinnen vorsichtig um, belastete sie nicht zu oft mit der Kranken. Irma war die Einzige, der sie, zwar gezwungenermaßen, aber immerhin ihrer beider Geschichte anvertraut hatte. Die übrigens Ende der dreißiger Jahre in den höheren Kreisen ziemlich lange der Gegenstand gierigen Klatsches gewesen war.
Irma trat nicht gleich hinter ihr ein, Höflichkeit und Rücksicht geboten ihr, in der Badezimmertür einen Augenblick zurückzubleiben. Was ihr gelegen kam, denn sie musste sich zuerst verbieten, an ihre Söhne zu denken. Sie würde zwar Zeugin der Szene sein, aber sie wollte ihnen ein wenig Zeit lassen.
Ihr Zögern hatte aber noch einen anderen, nicht weniger heiklen Grund.
Nach den Regeln ihres Berufs durfte sie sich von nichts und niemandem abgestoßen fühlen, denn Abgestoßensein bedeutete in der Sprache ihres Fachs, dass sie etwas nicht zu analysieren vermochte, dass sie im anderen oder in sich selbst etwas nicht sah, etwas verdrängte. Aber das konnte sie sich noch so oft sagen, von Elisa Koháry, die sie in gesundem Zustand nur flüchtig gekannt hatte, fühlte sie sich trotzdem gewissermaßen auf den ersten Blick und im wahrsten körperlichen Sinn des Wortes abgestoßen und hatte eine schmähliche Angst vor ihr.
Als sie von Wien zurückgekehrt war, war da diese Frau, die zu Mária gehörte, die man nicht von ihr trennen konnte und um die man nicht herumkam.
Man hatte ihr Mária weggenommen.
Zu Gesprächen unter vier Augen blieb kaum mehr Gelegenheit, und deshalb, ganz primitiv, hasste sie Elisa einfach.
Mit dem Verstand erfasste sie zwar die Gründe ihres Abgestoßenseins und ihrer Angst, aber damit waren ihre Gefühle noch nicht beseitigt.
Kaum war die Tür aufgegangen, konnte sie die unglückliche Frau sehen, wie sie im hell erleuchteten Zimmer in einem verblassten, geblümten Kattunkleid auf dem Rand der Récamière saß. Sie wimmerte ausdauernd und gleichmäßig, schwenkte den Kopf im Takt der Töne, nach rechts, nach links, erschreckend, unermüdlich, und mit der Faust schlug und trommelte sie auf ihre gelähmten Knie.
Es war das einzige anständig eingerichtete Zimmer der großen Wohnung, besser gesagt, Mária hatte die Sache inmitten der größten Entbehrungen so gedeichselt, dass sie aus diesem Zimmer keinen der wertvollen Gegenstände verkaufen musste. Es war so geblieben, wie sie es in den ersten, bei weitem nicht glücklichen Wochen ihres Zusammenlebens nach Elisas Geschmack eingerichtet hatten.
Die Bewegung war auf den ersten Blick verständlich. Wahrscheinlich machte sie das schon lange. Es war offensichtlich, dass sie sich selbst bestrafte, dass sie mit sich leidenschaftlich unzufrieden war, diese elenden Knie rührten sich ja nicht, sie konnte nicht aufstehen. Wie schön geformt und proportioniert ihre Beine, die Fesseln, die Waden, die langen Schenkel in den feinen Seidenstrümpfen und den ausnehmend zierlichen, unanständig hochhackigen Schuhen gewesen waren, das allerdings konnte man nicht vergessen. Jetzt steckten die geschwollenen Füße in ausgelatschten, karierten Pantoffeln. Ihr aschblondes, natürlich gewelltes reiches Haar, üppig durchzogen von Weiß, wodurch die Blondheit noch aufregender erschien, fiel ihr ins Gesicht, während sie die eingeübte Bewegung der leidenschaftlichen Selbstbestrafung wiederholte. Sie sah aus wie eine Wahnsinnige, doch war die Übertreibung Teil der Gestensprache, mit der sie ihren Willen und ihre Gefühle überhaupt ausdrücken konnte, wozu sie unglaubliche Kraftreserven mobilisierte.
Ihre linke Schulter und der linke Arm waren teilweise, ihr Unterleib vollständig gelähmt, in der Folge einer sogenannten generalisierten Arteriosklerose. Für diese Diagnose gab es den handfesten Grund, dass ihr Großvater, Baron Dénes Koháry, Jagdrat des Landwirtschaftsministers, an den Folgen einer falsch behandelten Syphilis verblichen war und ihr Vater ebenfalls an schweren Kreislaufstörungen gelitten hatte. Elisas Darmausgang und Schambereich hatten hingegen ihre ganze Empfindlichkeit bewahrt, so dass sie ihre Bedürfnisse verspürte und innerhalb bestimmter Grenzen für sich selbst sorgen konnte. Hingegen konnte sie, mit der Ausnahme eines einzigen, keinen
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