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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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verstand seine Argumente und fand seine Bedenken logisch.
    Nur konnte sie sich keine andere Straße, keine andere Stadt erfinden, auch keine anderen Patienten, und sie legte ihm diese unumgänglichen Realitäten dar.
    Sie hatten das Gespräch in der leeren, im sechsten Stock gelegenen Wohnung begonnen, später gingen sie hinunter, um sich in ein Kaffeehaus zu setzen, dann spazierten sie mehr oder weniger zufällig über die Margaretenbrücke auf die Insel hinaus.
    Schon ihr erster längerer Spaziergang brachte sie in Verlegenheit.
    Es war ihnen nicht klar, ob nicht die Person, mit der sie über ihre Arbeit sprachen, wichtiger war als die geschichtlichen und soziologischen Themen, beziehungsweise beide verstanden nicht, in welcher Beziehung das alles zueinander stand. Frau Szemző konnte die Argumente des jungen Architekten nachvollziehen, und Madzar begriff durchaus, warum die Analytikerin ihre Praxis gerade hier eröffnen wollte und was das für eine Arbeit war, die nach solchen Umständen, nach diesem Ort verlangte.
    Beide schienen die Aufgabe zu haben, Hand an wunde Punkte oder unglückliche Voraussetzungen anzulegen, um neue Möglichkeiten zu schaffen.
    Madzar wäre es auch deshalb schwergefallen, den Auftrag abzulehnen, weil er in Frau Szemzős Absichten eine Analogie zu seinen Plänen entdeckte, und so erschien ihm die mindere architektonische Qualität auf einmal nicht mehr als Ärgernis, sondern als Herausforderung. Die von ihm eigenhändig geschaffenen qualitativ hochstehenden Objekte würden zu dem Neuen beitragen, das von allen Ecken der Welt her allmählich zu einer neuen Zivilisation zusammenwuchs. Er war, mit den Besten seiner Generation, ein eingeschworener Verfechter dieser asketischen Utopie.
    Diese Utopie bestimmte viele Leben. Man schmiss den ganzen Ramsch der Elterngeneration hinaus, wurde das Überflüssige los, strebte nach Transparenz und Einfachheit, nach dem qualitativ Sauberen.
    Darunter machten es diese jungen Architekten nicht.
    Madzar aber wollte in der Radikalität noch einen halben Schritt weiter gehen. Sich nicht auf vorgefundene Situationen einlassen, sondern im Gegenteil andere vor ein
fait accompli
stellen. Als Frau Szemző unter den riesigen Platanen der Margareteninsel diese Rigorosität des Architekten zu begreifen begann und dadurch auch die Zwänge und Hindernisse ihrer eigenen Situation erblickte, begann sie zu bedauern, dass sie nicht jünger war. Oder nicht wagemutiger. Unmöglich, mit ihm ein neues Leben anzufangen, ein anderes, vielleicht in einer anderen Sprache auf einem anderen Kontinent. Es war wie eine Entdeckung, dass sie noch ein eigentlicheres, asketischeres Leben hätte.
    Vom Springbrunnen kam in Schwällen Sprühregen.
    Dieser Mann war durch seine Abstammung wahrscheinlich in kein so enges Familien- und Stammesgeflecht eingebunden wie sie, die nicht loskam, jedenfalls nicht so weit weg.
    Sie konnte ihre Augen vom Haar des jungen Mannes nicht abwenden.
    Nicht nur seine Farbe, ein tiefes Bronzerot, war ihr unvertraut, sondern auch seine Beschaffenheit, die Dicke der einzelnen Haare, auch die rasch auf und ab klappenden Wimpern, was auf Nervosität schließen ließ, oder seine dichten Augenbrauen, ein Zeichen ruhiger Konstitution. Die Ansätze seiner Wimpern waren durchsichtig blond, wurden dann den Bogen entlang dunkler, bronzerot. Das rasche Blinzeln machte den Eindruck, als fehle zwischen Lid und Wimpern die Verbindung, als bewegte sich beides selbständig.
    Ein bisschen neidisch, fast sehnsüchtig dachte sie daran, wie dieser Mann, zwar schwerer als Bronze, die Flügel entfalten würde. So ein hochorigineller Mensch. Der sich von der Last einer vollgestopften Welt befreite. Der keine magisch gearteten Bindungen besaß.
    Frau Szemzős Interesse richtete sich auf den Zusammenhang zwischen persönlicher Erfahrung und den Gegebenheiten der weiteren Umgebung, auf den Zusammenhang zwischen dem Individuellen und dem Geschichtlichen, auf alles, was mythisch und magisch ist, was das individuelle Leben übersteigt und in Rede und Handlung als Ritus aufscheint. Sie alle interessierten sich im Grunde für ähnliche Dinge und waren mit Ähnlichem befasst. Mária Szapáry beschäftigte sich mit dem Zusammenhang von nacktem Körper und Draperie, von Blöße und Verhüllung, mit diesem kulturhistorisch gründlich dokumentierten, aber auch auf Abwege geratenen Thema. Beide fragten in ihrer Arbeit nach dem Einzelfall und dem Allgemeinen, nach dem Individuellen und dem

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