Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
Muttersprache verstand Gyöngyver nicht, welchen Sinn es hatte, in bestimmten Lebenslagen Plaid statt Decke zu sagen, und dieses Unbegreifliche erfüllte sie zuweilen mit Hass. Jetzt aber ahnte sie, dass es in der überwältigenden, weil unfasslichen Welt etwas gab, das sich jenseits des Gebrauchswerts der Gegenstände befand, jenseits ihrer Namen und ihres Daseins, jenseits der persönlichen Gefühle. Ihre nackten Sohlen berührten auf angenehme Art das Parkett, ein kitzliges, warmes Gefühl, die ausgetrockneten Eichenholzlamellen schnitten ihr leicht ins Fleisch. Sie wusste nicht, was für eine Feuchtigkeit aus ihnen herausgetrocknet war, aber den Vorgang des Austrocknens spürte sie jetzt deutlich an den Sohlen. Auch Frau Szemző konnte davon nicht viel wissen, sie war schon zuvor geflohen, und als es geschah, hatte man sie zusammen mit ihren beiden Jungen schon deportiert. Gyöngyvér drehte sich mit dem Klavierschemel, den Frau Szemző einige Zeit nach dem Krieg bei einem Trödler gekauft hatte. Sie hätte weinen mögen, aber die Tränen kamen nicht, und so konnten auch ihre Wut und ihr Hass nicht ausbrechen. Im Haus der Szemzős an der Dobsinai-Straße waren nur die Gegenstände zurückgeblieben, die man nicht leicht transportieren konnte, etwa der Flügel, während der Klavierschemel, zusammen mit allem anderen ebenfalls von Madzar entworfen, verschwunden war.
    Gyöngyvér saß jetzt auf einem für höhere Töchter gefertigten Schemel, den Frau Szemző in der Erinnerung an ihre eigene Mädchenzeit anstelle des ursprünglichen gekauft hatte. In der Welt existieren zahllose Kausalzusammenhänge, die nicht sichtbar sind, aber trotzdem spürbar bleiben. Höchstens, dass Gyöngyvér in diesem Momet nicht wusste, was sie spürte, aber es war trotzdem etwas Bestimmtes, von dem sie, wie das zu sein pflegt, auch eine bestimmte Auffassung hatte.
    Statt zu weinen suchte sie sofort eine mögliche Intonation, eine an Rufen, Flehen oder Beten erinnernde Singstimme, in ihrer eigenen Phrasierung, und dazu schlug sie auf dem Klavier den Ton zweimal hintereinander an. Sie suchte einen bestimmten Ton oder Halbton, ohne zu wissen, welchen genau, während der alte Klavierschemel auf dem abgenutzten Parkett ein dünnes Quietschen hören ließ. Sie genoss die Kühle des geprägten Lederbezugs an ihrem Hintern, auch wenn die Berührung nach einer Weile in ihrer Blase erneut einen Harndrang hervorrief. Es war aber nichts mehr da. Obwohl sich ihre Blase danach sehnte, den Schemel vollzupissen.
    Ohne sich vom Platz zu rühren einfach loslassen. Der Urin hätte sich auf dem Leder gesammelt und wäre dann über den Rand geflossen.
    Das Hinunterfließen hätte sie hören mögen.
    Sie sah das, sah ein unbegrenztes Wasser überborden.
    Dieser Wunsch nach Überschwemmung erschreckte sie.
    Sie musste das Heiße in ihren brennenden Spalt zurückdrängen, was ihre Haltung noch steifer machte.
    Sie starrte in die stumme Nacht hinaus, als sähe sie da einen Film über ihre erschreckte, gereizte Person ablaufen.
    Eine Glasschiebetür trennte das Entree vom Salon, dessen breites, über die ganze Front gehendes Fenster auf den leeren Himmel blickte.
    Gyöngyvér konnte sich kein eigenes Zuhause vorstellen, aber wo immer sie wohnte, versuchte sie es doch wieder aufs Neue.
    Außer wenn sie sang.
    Ein künftiges Zuhause, die Wohnung einer berühmten Opernsängerin, die einfach keine Gestalt annehmen wollte. Wenn sie daran dachte, kam ihr ein alter, abgenutzter Eisenschlüssel in den Sinn und eine mit lilablauen Lilien durchwobene Seidentapete, die unter ihrer Hand zischend zerriss. Im Schloss von Tiszadob hatten sie sämtliche Seidentapeten herunterreißen müssen, zusammen mit den fröhlichen Erzieherinnen hatten sie vor Vergnügen gekreischt, im Einklang mit der zerreißenden Seide.
    Obwohl sie den Gedanken nicht loswurde, dass das Vergnügen der Seide wehtat.
    Die Mädchen und Erzieherinnen hatten ihr besetztes Schloss von der dunklen Macht der bösen Gräfin Katinka Andrássy befreien müssen. Die Fenster waren geschlossen, Frau Szemző fürchtete plötzlich ausbrechende Gewitter. In der stickigen warmen Luft lag der penetrante Geruch von Baldrian, der Frau Szemzős sämtliche Sachen durchdrungen hatte.
    Hier zwischen den Gebäuden stand die Hitze, und doch überlief sie ein Frösteln.
    Einer der blechbehelmten Türme der Palatinus-Häuser ragte in den leeren Himmel, mit einem starken Glanz, als streife ihn Mondlicht.
    Madzar hatte dieses seltsame,

Weitere Kostenlose Bücher