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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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damit noch mehr zu verraten und ihm auszuliefern. Sie ging rasch durchs Entree, an dessen rustikal gespritzter, hellgrauer nackter Wand eine einzige Wandlampe brannte. Sie gab ein fahles, unfreundliches Licht. Frau Szemző hatte die fixe Idee, mit diesem Licht Einbrecher oder Diebe abschrecken zu können.
    In Wirklichkeit lebte sie in ständiger Angst, sich in der eigenen Wohnung plötzlich Fremden gegenüberzufinden oder im Dunkeln gegen weiche, lebendige Leiber zu stoßen.
    Deshalb musste nachts diese schwache Glühbirne brennen.
    Die lebendigen Leiber hatten in dem in der Sonne glühenden Viehwaggon die lebendigen Toten noch eine Weile aufrecht gehalten.
    Nach Vorschrift hatten die Gendarmen pro Waggon neunzig Juden abzuzählen und hineinzupferchen, in diesem Waggon waren es aber hundertsechzehn, weil man an den im Bahnhof von Veszprém stehenden Zug nicht noch einen zusätzlichen Waggon anhängen wollte.
    Geheimrat Elemér Vay, den Seine Durchlaucht, der Reichsverweser höchstselbst, mit der Aufsicht über die Deportationen betraut hatte und der von April vierundvierzig an gemäß dem vom Innenministerium aufgestellten Aktionsplan von Stadt zu Stadt reiste, hielt auch diesen Sachverhalt sorgfältig in seinem Notizbuch fest.
    Seine mündlichen Berichte konnten sich natürlich nicht auf solche unbedeutenden Einzelheiten erstrecken.
    Sie wollte mit niemandem darüber sprechen, konnte es auch nicht.
    In den drei Monaten kehrte Geheimrat Vay nur gerade zweimal nach Budapest zurück, wo ihn Seine Durchlaucht mehr als freundlich empfing, bei einem fast schon familiären Tee in Anwesenheit seiner Schwiegertochter, der stets diszipliniert heiteren Gräfin Imola Auenberg. Nach dem Tee verfügte man sich ins Arbeitszimmer, wo der Geheimrat seine in der Provinz gewonnenen Eindrücke kurz schildern durfte. Die Gräfin war von Jugend auf mit der jungen Frau Elemér Vays gut befreundet, sie hatte es durchgesetzt, dass der pensionierte hohe Beamte für diesen Sonderauftrag reaktiviert wurde.
    Seine Durchlaucht selbst war höchst zufrieden mit dem Bericht des bei der Ausführung vertraulicher Aufträge mehrfach erprobten und unbedingt loyalen Beamten.
    Noch am Ende ihrer letzten Begegnung hatte er dem Geheimrat eindringlich nahegelegt, falls es bei der Räumung der Ghettos auf dem Land von Seiten der Gendarmen zu Übergriffen oder Gräueltaten kommen sollte, dies unverzüglich und auf dem üblichen Weg in einem verschlüsselten Telegramm an die Gräfin zu melden. Seine Durchlaucht war der persönlichen Meinung, dass die schwerwiegende und brennende Frage in diesen wenigen Monaten ein für alle Mal gelöst werden müsse, Willkür und Ungerechtigkeit hingegen mit dem ritterlichen Wesen des Ungarntums nicht vereinbar seien.
    Aus jener Zeit stammte Frau Szemzős Bedürfnis zu wissen, was der unausweichlich kommende nächste Augenblick in sich birgt.
    Sie sagte sich, dass die Einzelheiten höchstens einen Pathologen oder einen Gerichtsmediziner interessierten, und sie musste an die mit ihr selbst identische Person denken, die einige Monate im Sezierraum des Lagers Buchenwald als Gehilfin des Professors Nussbaum hatte arbeiten dürfen. Wie schaffen es lebendige Körper im gegebenen Fall, die Körper von Ohnmächtigen oder Toten, die nach gängiger Meinung nichts mehr empfinden, sich unter die Füße zu manövrieren. Es kam ihr fortwährend vor, als hätte sie das nur gelesen, nicht erlebt. Sie dachte an den Privatdozenten Dénes Schranz, der alle diese Schauerlichkeiten nicht hatte vorausahnen können, als er sein Buch über die besonderen Todesphänomene schrieb.
    Darüber musste Frau Szemző ein wenig kichern.
    Das Interessante war, dass sie selbst nicht glauben konnte, wie viel Unnötiges sie wusste.
    Wenn sie da angelangt sind, eingeklemmt unter den dauernd ihren Platz suchenden, trampelnden Füßen, wie es dann zugeht, dass die Lebenden aus den Toten auf dem löchrigen Waggonboden alle Flüssigkeit herausquetschen, Blut, Urin, Augenbälle, Fäkalien, sogar das Mark.
    Ein paar hatten zwar versucht, etwas dagegen zu unternehmen, aber mit Rufen ließ sich nichts ausrichten, sie selbst hatte nach einiger Zeit keine Stimme mehr.
    Sie musste vor sich selbst verschweigen, was ihre Füße, zusammen mit den Füßen der anderen, in der höllischen Hitze und dem Stimmengewirr tagelang getan hatten.
    Ihr Denken hatte eine Angst erfunden, die ihr Bewusstsein besetzte.
    Um nicht mehr zu spüren und zu hören, wie ihre festen Schuhe mit den

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